Das Moskau Virus: Roman (German Edition)
fragte er scharf.
»Nein, das stimmt«, gestand der Oberst. »Doch in mehreren Fällen haben wir mitgehört, wie Piloten von fremden Flugeinheiten sich identifizierten und um Landeanweisungen auf diesen Stützpunkten baten. Jedes Mal haben die Controller sie nachdrücklich daran erinnert, dass strikte Funkstille einzuhalten sei und sie sich an die Landmarken halten sollten, die man ihnen vor dem Abflug in der Heimatbasis erklärt habe.«
»Das gibt natürlich zu denken«, sagte ein weiterer Luftwaffen-Generalmajor grimmig. Er befehligte ein MiG-29-Geschwader, das in der Nähe von Kiew stationiert war. »Kein vernünftiger Befehlshaber fordert von seinen Piloten, zu Trainingszwecken bei Funkstille eine fremde Basis anzufliegen. Nicht im Winter! Nicht, wenn er es nicht riskieren will, Flugzeuge und Piloten bei vermeidbaren Unfällen zu verlieren. Warum sollten die Russen so etwas
tun, es sei denn, sie versuchen, diese Truppenbewegungen vor uns zu verbergen?«
Der Oberst, der die Besprechung leitete, nickte bestätigend. »Ja, und genau genommen hat sich der gesamte militärische Funkverkehr der Russen in den letzten vierundzwanzig Stunden auffällig verringert, ob bei Flug-, Boden- oder Raketeneinheiten … einfach bei allem.«
Stirnrunzeln rund um den Tisch. Funkstille war eine Sicherheitsvorkehrung, die manchmal genutzt wurde, um den Aufmarsch von Streitkräften geheimzuhalten. In Friedenszeiten war es für Flug-, Panzer-, Artillerie- und Infanterieeinheiten schneller, leichter und sicherer, über Funk miteinander und mit den Hauptquartieren zu kommunizieren.
»Gibt es irgendwelche anderen Hinweise darauf, dass ein Angriff bevorstehen könnte?«, fragte einer der Kommandeure der Raketenabschussbasen leise.
»Die Russen fliegen deutlich mehr Einsätze an und in der Nähe unserer gemeinsamen Grenze«, bemerkte der Oberst. »Mehrmals sind sie ›versehentlich‹ in unseren Luftraum eingedrungen – manchmal sogar zwanzig bis dreißig Kilometer weit.«
»Sie testen uns«, sagte einer der Generäle brüsk. Der stiernackige Mann in den frühen Fünfzigern kommandierte eine wichtige Radaranlage nahe der Stadt Konotop in der östlichen Ukraine. »Sie überprüfen unsere Verteidigungsmaßnahmen, um unsere Erfassungsmöglichkeiten einschätzen zu können und um herauszufinden, wie schnell wir auf ein feindliches Flugzeug in unserem Luftraum reagieren. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist bei diesen ›Unfällen‹ ein Aufklärungsflugzeug in der Nähe, das unsere Radarfrequenzen, Funkgespräche und Abfangjäger beobachtet.«
Er wandte sich dem Kopfende des Tisches zu. Dort saß der grauhaarige Oberbefehlshaber der Luftverteidigung, Generalleutnant Rustern Lissenko. Allem Anschein nach folgte er der Diskussion, während er mit gesenktem Kopf aufmerksam die von seinem
Stab vorbereiteten Informationen studierte. »Was ist Ihr Eindruck, General?«
Lissenko antwortete nicht.
»General?«
Einer der Offiziere, die neben Lissenko saßen, beugte sich zu ihm und berührte ihn sacht an der Schulter. Daraufhin brach der grauhaarige Mann über seinen Papieren zusammen. Ganze Haarbüschel fielen ihm aus und ließen einen auffälligen Ausschlag auf seinem Schädel zum Vorschein kommen. Offenbar von glühendem Fieber geschüttelt, begann er sich unter Krämpfen zu winden.
Erschrocken hielten alle im Raum die Luft an.
Der Oberst, der Lissenko angefasst hatte, starrte entsetzt auf seine Hand. Dann griff er nach dem nächsten Kommandotelefon. »Verbinden Sie mich mit dem Krankenhaus! Wir haben einen Notfall!«
Eine Stunde später stellte sich ein zu kurz geratener, unscheinbarer Luftwaffen-Hauptmann ans Fenster seines kleinen Büros. Er schaute in den Innenhof des Verteidigungsministeriums und betrachtete die hektische Aktivität unten mit unverhohlener Befriedigung. Ärzte und Medizintechniker in Schutzanzügen hatten alle Hände voll zu tun, eine lange Reihe besorgt wirkender Generäle auf die wartenden Ambulanzen zu verteilen. In den vergangenen Wochen waren so viele hochrangige Soldaten und Politiker krank geworden, dass diejenigen, die in Kiew noch etwas zu sagen hatten, kein Risiko mehr eingehen wollten. Alle, die an der Lagebesprechung teilgenommen hatten, kamen in strenge Quarantäne.
Der Mann lächelte. Vor drei Tagen hatte er den Inhalt eines Röhrchens über das Frühstück geschüttet, das General Lissenko üblicherweise zu sich nahm, eine Schüssel mit Kascha – gekochtem Buchweizenbrei. Und das Resultat dieser
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