Das Multiversum 1 Zeit
vor zehn Jahren nach Hause gekommen war, ihn wiedererkennen würde.
Atal war erst achtzehn Jahre alt gewesen. Er war im Bewusstsein aufgewachsen, dass Kaschmir Indiens unruhigste Provinz war.
Trotzdem war er glücklich gewesen in Srinagar, wo sein Vater als wohlhabender Tuchhändler lebte. Nicht einmal die Gewehrschüs-se, die nachts in den entfernten Bergen fielen, beunruhigten ihn.
Doch an dem Tag, an dem er von der Universität nach Hause kam – er wollte Arzt werden –, hatte sich alles geändert. Er hatte seine Mutter zusammengekauert und wehklagend auf der Treppe gefunden. Und im Haus hatte er die sterblichen Überreste seines Vaters gefunden.
Überreste. Ein kaltes, gefühlloses Wort. Nur die untere Hälfte des Körpers war überhaupt noch als menschlich zu identifizieren gewesen. Seine Mutter hatte sie nur anhand der Narbe am linken Fuß zu identifizieren vermocht. Von den Behörden hatten sie weder Trost noch Hilfe bekommen.
Atal erfuhr bald die Wahrheit.
Sein Vater hatte viele Jahre als Agent für die indische Zentralre-gierung gearbeitet. Er hatte versucht, das labile Gleichgewicht in 508
diesem umkämpften Land aufrechtzuerhalten. Und am Ende hatte es ihn das Leben gekostet.
Seitdem hatte Atal auf Rache gesonnen.
Der Krieg hatte schon begonnen, mit Scharmützeln in den Bergen, Grenzverletzungen der pakistanischen Luftwaffe und dem Ab-schuss indischer Agni-Raketen auf militärische Ziele.
Dieser Krieg war unvermeidlich, weil jeder diesen Krieg wollte.
Falls die merkwürdigen Vorhersagen der westlichen Wissenschaftler stimmten – falls die Welt wirklich dem Untergang geweiht war, falls übermenschliche Kinder die US-Armee in der Wüste besiegt hatten und zum Mond geflogen waren –, dann musste altes Unrecht gerächt werden, ehe die Dunkelheit sich herabsenkte.
Er wusste, dass er den Tag wahrscheinlich nicht überleben wür-de. Es gab keine Zukunft, keine Welt für seine Kinder. Es gab nur noch eins, das Ziel, den Triumph des Siegs vor dem Erlöschen des Lichts.
… Das Funkgerät krächzte. Grunzend zog er das winzige Gerät aus dem Ohr. Es lag im Gras und zirpte wie ein Insekt.
Elektromagnetischer Puls.
Er schaute über die Schulter. Kondensstreifen: vier, fünf, sechs an der Zahl, aus westlicher Richtung. Ghauri-Raketen mit Atom-sprengköpfen. Bombay, Delhi, Kalkutta hatten nur noch Minuten zu leben.
Aber die Vergeltung durch Indien war sicher.
Eine Bewegung zur Rechten.
Eine Explosion im Kopf. Licht, Geräusche und Gerüche verschmolzen und wirbelten durcheinander.
Er lag auf der Seite. Dunkelheit senkte sich über ihn.
509
Xiaohu Jiang:
Xiaohu öffnete das Fenster und schaute in die Pekinger Nacht hinaus. Dieses Hochhaus war einer von vielen gut instand gehaltenen, aber tristen Wohnblocks, die sich wie Grabsteine um die Alte Stadt zogen. Ihre Mutter hatte ihr einmal gesagt, dass Peking zu dieser Jahreszeit für seinen klaren Himmel berühmt sei. Doch heute war die Sonne schon mittags manchmal verschleiert.
Xiaohu war in dieser Nacht besonders müde.
Ihre Arbeit in der volkseigenen städtischen Müllrecycling-Anlage war wie immer schmutzig und schwer gewesen. Trotz der seltsamen Nachrichten aus Amerika und des hellen Funkens, der neuerdings für jedermann auf dem Mond sichtbar war, musste sie an der xuexi hui teilnehmen, der wöchentlichen politischen Schulung, die im großen Gemeinschaftsraum im Keller des Gebäudes stattfand.
Doch zu ihrer Überraschung war das Unterrichtsmaterial, das diesmal ausgeteilt wurde, sehr interessant gewesen.
Sie bekam zum Beispiel eine neue Fassung einer alten Schrift, Ein Abriss bestimmter Fragen zum Sozialismus, die sich mit der offiziellen Parteilinie bezüglich der Carter-Prognose befasste. Das hatte sie erstaunt. Wenn Carter Recht hatte, so die Schrift, dann hatten zukünftige Generationen ausgesprochen schlechte Aussichten.
Wenn ein Kind gar nicht erst geboren wurde, musste es auch nicht leiden. Deshalb war es ein Gebot der Moral, keine Kinder mehr in die Welt zu setzen, um ihnen Leid zu ersparen.
Die neue Doktrin sollte bestimmt die langjährigen Versuche der Partei unterstützen, das nationale Bevölkerungswachstum zu begrenzen. Jeder war an die offiziellen Manipulationen der Wahrheit gewöhnt – an zhilu weima, auf einen Hirschen zeigen und ihn als Pferd bezeichnen.
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Trotzdem ging Xiaohu die Sache nicht aus dem müden Kopf. Es liegt Wahrheit darin, sagte sie sich. Sogar Weisheit. Aber was bedeutete das nun für sie?
Sie schloss
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