Das Multiversum 1 Zeit
Anführer. Die Kalmare zeigen keine gegenseitige Loyalität; sie kümmern sich nicht einmal um ihre Jungen. Und die einzelnen Tiere wechseln alle paar Tage zwischen den Schulen.
Und ihre Lebensdauer beträgt nur ein paar Jahre, wobei sie sich höchstens ein-bis zweimal paaren. Die Kalmare leben schnell und sterben früh; wir haben keine Ahnung, wozu so kurzlebige Tiere derart komplexe Verhaltensweisen, Kommunikationssysteme und Paarungsrituale brauchen … Aber sie haben sie eben. Ms. Della, sie sind nicht wie die Tiere, die Sie vielleicht kennen. Vielleicht sind sie eher wie Vögel.«
»Und Sie behaupten, dass diese Kommunikationssysteme in Wirklichkeit eine Sprache seien.«
Dan kratzte sich am Bart. »Es ist uns gelungen, eine Reihe elementarer linguistischer Komponenten zu isolieren, die in der Summe eine primitive Grammatik ergeben. Sogar bei normalen Kalmaren. Die Sprache scheint jedoch geschlossen zu sein. Soweit 53
wir wissen, deckt sie nur die Felder Nahrung, Sex und Gefahr ab.
Sie hat Ähnlichkeit mit dem Schwänzeltanz der Bienen.«
»Anders als menschliche Sprachen.«
»Ja. Was wir tun müssen, ist die Sprache der Kalmare zu öffnen.
Wir bauen dabei auf den grundlegenden Mustern und der Grammatik auf, über die die Kalmare bereits verfügen. Die Anzahl der Signale, die Sheena zu erzeugen vermag, ist natürlich nicht unbegrenzt, doch haben schon normale Kalmare ein großes ›Vokabu-lar‹, wenn man die Bandbreite der Intensität, Dauer und anderer Faktoren berücksichtigt, zu denen sie imstande sind. Wir glauben, dass sie zum Beispiel Stimmungen und Absichten mit diesen Faktoren ausdrücken. Und ein paar davon sind uralt. Manche einfa-cheren Signale – zum Beispiel die deimatischen Muster zur Abwehr von Räubern – sind auch bei Oktopussen zu beobachten. Die Kalmare haben sich im frühen Mesozoikum, vor etwa zweihundert Millionen Jahren, von ihnen abgespalten. Wie dem auch sei, wir glauben, dass Sheena – und ihre Nachkommen auf jeden Fall – auf dieser Grundlage imstande sein müssten, eine unendliche Anzahl von Botschaften auszudrücken. Wie Sie und ich es auch vermögen, Ms. Della. Kalmare sind kluge Mollusken. Es war leicht, ihnen Sprache zu vermitteln.«
»Wie trainieren Sie sie?«
»Mit positiver Verstärkung. Hauptsächlich.«
»Hauptsächlich?«
Er seufzte. »Ich weiß, worauf Sie hinauswollen. Ja, Cephalopoden sind schmerzempfindlich. Sie haben freie Nervenenden in der Haut. Wir arbeiten beim Erkennungs-Training mit Niedervolt-Elektroschocks. Sie reagieren, als ob – nun, wie Sie reagieren würden, wenn ich Sie mit einer Brennessel berührte. Es ist wirklich nicht schlimm. Ms. Della, ich hoffe, Sie lassen sich davon nicht irritieren. Sheena liegt mir am Herzen – auch über ihre Mission 54
hinaus. Ich würde ihr nie schaden wollen. Ich habe kein Interesse, sie zu verletzen.«
Sie musterte ihn und erkannte, dass sie ihm vertrauen konnte.
Aber sie spürte ein gewisses Defizit bei ihm, das Fehlen einer mo-ralischen Instanz. Vielleicht war das auch die Voraussetzung für einen Wissenschaftler, einem anderen Lebewesen Schmerz zuzufü-
gen.
Dan redete immer noch. »… Beim Entwurf der verstärkten Sheena-Serie gelang uns der Nachweis, dass die fürs Lernen zuständigen Gehirnabschnitte die vertikalen und oberen Stirnlappen sind, die oberhalb des Oesophagus liegen.«
»Und wie haben Sie das nachgewiesen?«
Dan blinzelte. »Durch die Sezierung von Kalmar-Gehirnen.«
Maura seufzte. Memo, sagte sie sich. Du darfst nicht zulassen, dass Igor diesen Naziärzte-Kram vor laufender Kamera wiederholt.
Sie fühlte auch Unbehagen auf einer tieferen Ebene. Dan Ystebo missbrauchte die erstaunlichen Kommunikationssinne des Kalmars für seine eigenen Zwecke: für die Erfassung banaler Befehle, die von Menschen übermittelt wurden. Dan hatte eingestanden, dass er nicht wusste, wozu diese ausdrucksstarke Sprache überhaupt diente. Was, wenn wir Sheena schaden, fragte Maura sich, indem wir sie von den Gesängen der Schulen ausschließen? Hat ein Kalmar eine Seele?
Sie studierten Sheena. Ihr Kopf wurde von einem Schnabel ge-krönt, der von flossenartigen Armen umringt war, und zwei nach vorn gerichtete blau-grüne Augen mit orangefarbenem Rand schauten kurz in die Kamera.
Fremde Augen. Intelligent.
Was war es wohl für ein Gefühl, Sheena zu sein?
Und wusste Sheena gar, dass Menschen – Reid Malenfant und Konsorten – sie mit einem Raumschiff zu einem Asteroiden schicken wollten?
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Die
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