Das Multiversum 2 Raum
sie. »Wie ein Parkettboden.«
»Ja«, flüsterte Nemoto nach einer Weile. »Dies ist die älteste Landschaft der Venus. Sie bildet die Geschichte einer gewaltigen Hitzeentwicklung, eines Kataklysmus ab. Wir werden noch viele Beispiele für geologische Gewaltausbrüche sehen.«
Wohin auch immer sie schaute, glühte die Welt in einem trüben Rot – sowohl das Land als auch der windstille Himmel. Der Himmel über ihr glich einem bedeckten Erdhimmel und leuchtete in einem glutroten Licht wie ein Sonnenuntergang – er war heller, als sie erwartet hatte, ähnelte aber mehr dem Mars als der Erde, sagte sie sich. Von der Sonne selbst war nichts zu sehen außer einem trüben Schein tief am Horizont. Der ›Tag‹ dauerte hier über hun-221
dert Erdentage und ergab sich aus dem Umlauf der Venus um die Sonne und ihrer langsamen Rotation – ein ›Tag‹ war hier länger als ein Jahr.
Jenseits des großen Plateaus überquerte sie eine Hochland-Region, die von breiten Tälern durchschnitten wurde – ein spektakuläres, grandioses Bild, das durch die kilometerdicke Wolkenschicht über diesem Höllenplaneten fremden Blicken für immer verborgen bleiben würde. Der östliche Ausläufer von Aphrodite war eine breite, längliche Erhebung offensichtlich vulkanischen Ursprungs mit Spalten, Kuppen, Lavaströmen und großen Schildvulkanen.
Das spektakulärste Merkmal war jedoch eine mächtige vulkanische Formation namens Maat Mons: Der größte Vulkan auf der Venus mit einem Basisdurchmesser von dreihundert und einer Höhe von acht Kilometern. Er hatte die doppelte Höhe des Mauna Loa, des größten Vulkans der Erde, wobei die Höhe unter der Meeresober-fläche mitgerechnet war.
Dies war eine Welt des Vulkanismus. Die weiten Ebenen waren mit Basalt überzogen – erstarrte Lavaseen wie die Maria auf dem Mond – und mit kleinen schildförmigen Vulkanen übersät, die aus Lavaströmen aufgeschichtet worden waren. Aber es gab auch Schildvulkane in der Art der hawaiischen Vulkane – zum Beispiel Maat Mons –, die sich fünf bis sechs Kilometer über die Ebenen erhoben und von dicken Lavaströmen überzogen waren.
Während sie sich in östlicher Richtung von Aphrodite entfernte und über eine glatte Basalt-Tiefebene hinwegflog, lernte Carole Merkmale zu unterscheiden, zu denen es auf der Erde keine Ent-sprechungen gab: Steilwandige Erhebungen mit glatter Oberfläche, die durch Lava entstanden waren, die aus Spalten in der Kruste ge-quollen war. Außerdem gab es Vulkane, deren Flanken durch gro-
ße Erdrutsche ausgemeißelt worden waren und die Grate hinterlassen hatten, die wie Insektenbeine aussahen. Dann gab es Vulkane 222
mit Lavaströmen, die sich wie Blüten in die umliegenden Ebenen geschoben hatten.
Und am spektakulärsten waren die Koronas: Unirdische Ringe aus Graten und Brüchen. Manche durchmaßen Tausende von Kilometern und hätten die ganze Landmasse der Vereinigten Staaten einzugrenzen vermocht. Vielleicht waren sie aus aufsteigender Magma entstanden, die die Kruste hochgedrückt und sich dann ausgebreitet hatte, worauf die Mitte wie ein misslungener Kuchen eingesackt war. Auf Carole wirkten die angeschwollenen, verzerr-ten und zerbrochenen Krustenringe wie eine riesige Gussform, die aus dem tiefsten Innern der Venus an die Oberfläche gebrochen war.
Es gab hier sogar Flüsse.
Das Ballonschiff trieb über kilometerbreite und Tausende von Kilometern lange Täler, die wie das Amazonassystem mit seinem Überschwemmungsgebiet, dem Delta, den Flussbiegungen und Sandbänken anmuteten. Und das auf einer Welt, wo seit Milliarden Jahren kein Wasser geflossen war – falls das überhaupt jemals der Fall gewesen war. Eins der längsten Täler namens Baltis Vallis war länger als der Nil und damit das längste Flusstal im Sonnensystem. Vielleicht waren die Flüsse durch eine exotische Lavasorte entstanden – zum Beispiel ein salziges kohlenstoffreiches Gestein wie Karbonatit, das in der noch heißeren Vergangenheit der Venus flüssig gewesen war.
An einem Ballon hängend würde Carol für eine Woche über diese öde Welt schweben, während sie selbst und die Sensoren des Landungsboots die fremdartige Landschaft absuchten. Und dann würde sie vielleicht landen.
Ein Gefühl der Verzauberung ergriff von ihr Besitz. Auf der Venus gab es weder Wasser noch Leben; und doch sah sie, dass der Planet ein Garten war, ein Garten des Vulkanismus und der Ge-steinsskulpturen. Meine Mutter hätte all das verstanden, sagte Ca-223
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