Das Muster der Liebe (German Edition)
geglaubt, dass so viele Menschen zum Gottesdienst gingen. Hätte ihre Familie auch gemeinsam gebetet, wäre sie unter Umständen zusammengeblieben. Ja, genau, jetzt erinnerte Alix sich! Sie hatte eine Zeit lang regelmäßig gebetet – und trotzdem brachte ihr das kein Glück, dachte sie missmutig. Ein Gefühl der Bitterkeit überfiel sie. Diese Kinder hatten es gut – ihre Eltern kümmerten sich um sie. Alix dagegen hatte sich damals aus freien Stücken dafür entschieden, den Kontakt zu ihrer Mutter abzubrechen. An ihren Vater konnte sie sich gar nicht mehr richtig erinnern, weil er schon so lange weg war. Er hatte es nicht einmal für nötig befunden, zu Toms Beerdigung aufzutauchen. Als Alix an ihren Bruder dachte, wurde ihr Griff um das Gesangbuch fester. Alles, was Tom sich immer gewünscht hatte, war jemand, der ihn liebte und sich um ihn kümmerte – jemand, dem er nicht egal war. Doch ihnen beiden war in dieser Hinsicht kein Glück beschieden: Ihr Vater trank lieber mit seinen Freunden, und ihre Mutter war auch nicht besser. Kein Wunder, dass die Probleme ihrer Eltern ernsthafter Natur waren. Alix dagegen hatte für sich entschieden, ein besseres Leben zu führen.
Sie las die Worte, die in dem Gesangbuch standen, aber sie sang nicht mit. Im Augenblick machte sie sich Sorgen darüber, dass sie nicht wusste, wann sie aufstehen und wann sie sich setzen musste. Aus diesem Grund hatte sie die letzte Reihe gewählt. So konnte sie einfach die anderen beobachten und nachmachen, was sie taten.
Als das Lied zu Ende ging, setzte die Gemeinde sich. Der Pfarrer, ein älterer Herr, ging zum Altar. Alix entschied sich, erst nach der Predigt zu gehen. Sie befürchtete, jemand könne sich verletzt fühlen, wenn sie jetzt aufstand und die Kirche verließ.
Der Pfarrer sprach über das Alte Testament und das Buch Nehemia, von dem Alix noch nie zuvor gehört hatte. Und obwohl sie nicht alles verstand, berührte die Predigt sie tief in ihrem Herzen.
Gerade wollte sie aus der Bank schlüpfen, um die Kirche zu verlassen, als sie Jordan erblickte, der zum Altar trat. Offensichtlich war das Sommercamp zu Ende. Es versetzte ihr einen Stich, dass er noch nicht bei ihr im Videoladen vorbeigeschaut hatte.
Sie versuchte das Gefühl der Enttäuschung und des Schmerzes zu ignorieren. Aber ihn in der Kirche zu sehen war nicht die einzige Überraschung. Eine blonde Schönheit war bei ihm. Das Mädchen sah Jordan an, als sei er der Auferstandene.
Die beiden hielten Mikrofone in der Hand. Die Musik begann, und die Stimmen von Jordan und dem Mädchen harmonierten, als hätten sie schon ihr ganzes Leben zusammen gesungen. Diesem Vortrag zuzuhören war mehr, als Alix ertragen konnte. Bei dem Versuch, die Sitzbank so schnell wie möglich zu verlassen, stolperte sie beinahe über die Füße der Frau, die neben ihr saß. Ohne sich noch einmal umzusehen, stürzte sie aus der Tür.
Wenn sie noch einen Beweis gebraucht hatte, dass sie sich in Bezug auf Jordan etwas vormachte, war es dieser Kirchenbesuch. Taumelnd rannte sie in die nächste Seitenstraße. Sie schloss die Augen und schalt sich selbst. Mit dem Rücken an der Hauswand ließ sie sich in die Knie sinken und senkte den Kopf.
Natürlich sang Jordan in der Kirche mit dieser Miss Amerika. Und warum auch nicht? Er war der Sohn eines Pfarrers und praktisch in der Kirche aufgewachsen. Er hatte noch nie eine Gefängniszelle von innen gesehen oder vor einem Richter gestanden. Seine Eltern liebten ihn. Sie konnte nur ahnen, was sein Vater sagen würde, wenn er herausfand, dass sein Sohn Zeit mit einer wie
ihr
verbrachte.
Sie kauerte in der Seitenstraße, so tief in ihrem Schmerz versunken, dass sie kaum fähig war, sich zu bewegen.
“Hey, Alix.”
Eine Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Als sie aufsah, erkannte sie Tyrone Houston, in der Gegend besser bekannt als T-Bone. Er war Mitglied einer Straßengang und ein stadtbekannter Drogendealer. Das Letzte, was Alix von ihm gehört hatte, war, dass er im Gefängnis saß. Offensichtlich war er wieder auf freiem Fuß.
“Was machst du so?”, fragte T-Bone.
“Ich häng hier nur so rum. Hast du ein Problem damit?” Normalerweise redete niemand so mit T-Bone. Sie riskierte ihre Gesundheit, ihr Leben – und für einen Moment fragte sie sich, ob es ihr überhaupt etwas ausmachte.
“Kein Problem. Hast du Lust auf eine Party?”, fragte er sie gelassen.
Im Augenblick war Alix nicht gerade nach Gesellschaft zumute.
“Ich hab was da”,
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