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Das mysteriöse Pergament 02 - Irrwege (German Edition)

Das mysteriöse Pergament 02 - Irrwege (German Edition)

Titel: Das mysteriöse Pergament 02 - Irrwege (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heiko Rolfs
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weder die schaulustigen Stadtbürger noch die
Schergen und den Scharfrichter, sie starrte geradeaus. Ihr Blick war auf eine
Linde gerichtet, an der verloren ein einsames, von Raureif überzogenes Blatt
hing, welches den Stürmen standgehalten hatte. 
    Der Henker band ihr professionell die Hände und Füße. Dann
fasste sie der bärenstarke Mann unter die Achseln und hob sie in das Erdloch.
    Line ließ es willenlos geschehen. Ihre blassen Lippen
formten ein Schutzgebet: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er
weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er
erquicket meine Seele…“
    Dabei sprach sie so leise, dass kaum die ihr am nächsten
stehenden Henkersknechte und der Scharfrichter die Worte verstanden.
    Langsam schloss sich die Erde um sie wie ein eiserner Ring,
der ihre Brust zusammendrückte und das Atmen immer mehr erschwerte. Bald hatten
Veit und die anderen beiden Henkersknechte das zuvor ausgehobene Erdreich um
sie herum verteilt und festgestampft.
    Lines Blick irrte herum und blieb plötzlich an einem jungen
Mann hängen, der ihr bekannt vorkam. Dann fiel ihr sein Name ein. Es war
Caspar, der Handwerksbursche, der ihr eine Zeitlang nachstellte und dann
verhöhnte – in einem anderen Leben.
    Erstaunt sah sie die Tränen, die dem jungen Mann über die
Wangen liefen. Seine Freunde neben ihm schauten betreten drein. 
    Durch den Sauerstoffmangel und vielleicht auch den Trunk des
Henkers dauerte es nicht lange, bis ihr Blick sich trübte und sie keinen klaren
Gedanken mehr fassen konnte. Wie in einem Traum zog ihr junges Leben an ihr
vorbei. Sie sah das zerknitterte Gesicht Irmhildes, die klugen Augen Gretes und
schließlich Conrad. Deutlich sah sie seine strahlend blauen Augen und seinen Mund,
der ihr zulächelte und ihr die Worte „Ich liebe dich“ zuflüsterte, die er ihr
nie gesagt hatte. Sie glaubte zu fühlen, wie seine Hände sie streichelten.
    Line spürte nicht die Kälte, sie fühlte auch keinen Schmerz,
nur eine große Mattigkeit, die sich in ihr ausbreitete. Wie eine Mauer
umschloss sie die Erde und schnürte ihr langsam die Luft ab.
    Wie durch einen Schleier sah sie ein anderes Gesicht vor
sich auftauchen. Es war das des Henkers.
    Er beugte sich zu der Verurteilten herunter und hielt ihr
eine Feder unter die Nase, um ihren Atem zu prüfen. „Sie lebt noch“, bemerkte er
gleichgültig.
    Diese Prozedur würde er in bestimmten Abständen wiederholen,
bis er den Tod feststellte.
    Zwei Totengräber standen schon bereit und warteten mit
gleichgültigen Minen darauf, die Verurteilte auszugraben und in einer Kiste auf
ungeweihter Erde zu verscharren, wenn sie ihr Leben ausgehaucht hatte. Lange
konnte es nicht mehr dauern.
    Noch einmal öffnete Line die Augen. Aber sie nahm nichts
wahr, was um sie herum geschah. Kein Geräusch erreichte sie. 
    Wieder trat der Scharfrichter näher und beugte sich zu ihr
herunter. „Sie lebt noch“, verkündete er mit monotoner Stimme.
    Leise hörte er sie das Ave Maria beten. „…du bist gebenedeit
unter den Frauen und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes…“, wisperte das
Mädchen kaum vernehmbar, dann versagte ihre Stimme und sie betete stumm weiter,
wobei sie kaum noch ihre Lippen bewegte.
    Nach den letzten Zeilen ‚ Heilige Maria, Mutter Gottes,
bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes’ sahen die
Schaulustigen deutlich, wie sie mit den Lippen das Wort „Amen“ formte.
    Die Leute bekreuzigtes sich, als sie sahen, dass sich auf
ihren blauen Lippen ein seliges Lächeln zeigte. „Gott sei ihrer Seele gnädig“,
sagte eine ältere Frau und andere Schaulustige wiederholten den Spruch.
    Das letzte, was Line sah, war Conrad. Conrad saß auf seinem
schwarzen Schlachtross, aufrecht und stolz. Er trug einen scharlachroten
Tasselmantel über dem Gambeson und seine langen blonden Haare flatterten im
Wind. Er sah blendend aus. Dieses Bild nahm sie mit, als es dunkel um sie
wurde.
    Ein letztes Mal trat der Henker vor und beugte sich mit der
Feder zu der jungen Frau herab, um ihren Atem zu prüfen. 
    „Sie lebt nicht mehr.“ Stellte er fest. Dann erhob er sich
und verkündete laut, das Urteil wäre vollstreckt.
    Ein Raunen ging durch die Menschen, die das unspektakuläre
Schauspiel bis zum Schluss verfolgt hatten und sich jetzt langsam zerstreuten.
    Am Rande des Richtplatzes gewahrte Melchior Rabe eine
kleine, unscheinbare Gestalt, die das Geschehen unbewegt unter der weit in das
Gesicht

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