Das Nazaret-Projekt
etwas umständlich, während der Butler James völlig ungerührt mit flinken Bewegungen den zweiten Gang aufzutragen begann. Rademacher begab sich zum Kamin und drückte auf einen verborgenen Kontakt, der in den Rahmen des Gemäldes eingearbeitet war. Zu Tellys Überraschung verschwand daraufhin das Bild des Drachentöters und gab einen dahinterliegenden Videoschirm frei.
Bruder Rademacher warf einen wehmütigen Blick auf seinen verwaisten Teller und begann dann routiniert seinen Vortrag, den er gewiss nicht zum ersten Male hielt. Wie jeder gute Strafverteidiger eröffnete er sein Plädoyer mit den gewichtigsten Gegenargumenten, um der Anklage möglichst von vorneherein die Munition zu stehlen.
»Als Amerikaner ist Ihnen sicherlich noch ein etwas älterer, damals sehr erfolgreicher Hollywoodfilm in Erinnerung, in dem zum ersten Mal halbwegs realistisch die Möglichkeiten der Gentechnik als Grundidee benutzt worden sind. Ich spreche von Stephen Spielbergs Film ›Jurassic Park‹.
In späteren Jahren gab es dann tatsächlich etliche Versuche, über das Genmaterial diverser Funde diese Kreaturen aus der Vorzeit wieder zum Leben zu erwecken. Wir alle wissen, dass diese Versuche nie erfolgreich gewesen sind, obwohl der Stand von Forschung und Technik seit damals enorm verbessert worden ist und alle wichtigen Voraussetzungen für das Gelingen eines solchen Experimentes stets aufs Beste erfüllt worden waren! Seitdem herrscht vor allem in der Fachwelt die Meinung, dass ein solches Experiment unmöglich ist, reines Wunschdenken und Allmachtsfantasie! Die Frage nach der Ursache dieses Scheiterns hat mich aber nie mehr losgelassen.
Die Antwort fand ich dann eines Tages durch reinen Zufall – oder sollte ich vielleicht lieber sagen, durch göttliche Fügung? – als mir ein älteres Buch in die Hände geriet. Der Verfasser namens Rupert Sheldrake vertrat darin eine interessante Hypothese, nämlich die der Existenz sogenannter morphogenetischer Felder. Man kann so ein Feld auch Seele nennen; insoweit war das also nichts Neues. Neu daran war allerdings seine Behauptung, dass es für jede Tier- und Pflanzenart auch eine Seele geben muss, allerdings nur eine Gruppenseele im Gegensatz zum Menschen, dessen Seele nach unserem Verständnis individuell ist.
Das war tatsächlich des Rätsels Lösung, wie ich ein Jahr später feststellen konnte! Wenn eine Spezies restlos ausgestorben ist, dann hört nach einem Zeitraum von vermutlich mehreren tausend Jahren das zugehörige morphogenetische Feld - also die Gruppenseele, wenn sie so wollen – ebenfalls zu existieren auf!«
Doktor Rademacher legte eine bedeutsame Pause ein und blickte prüfend auf Telly Suntide, so als wolle er sichergehen, dass ihm sein Zuhörer bis dahin hatte folgen können.
Nicht nur aus reiner Höflichkeit hörte der Reverend sofort für einen Augenblick zu kauen auf, erhob die Hand mitsamt der fleischbespickten Gabel und stellte mit erstauntem Gesichtsausdruck eine Frage, die den wackeren Professor beinahe aus dem Konzept gebracht hätte: »Verehrter Herr Doktor, wollen Sie vielleicht behaupten, einen Beweis für die Sterblichkeit einer Seele gefunden zu haben? Als Priester und spiritueller Lehrer muss ich Ihnen da leider heftig widersprechen, denn ich weiß, dass eine Seele unsterblich ist! Das lehrt uns außerdem die Bibel und gehört zu den Grundlagen unseres christlichen Glaubens, egal ob Gruppenseele oder nicht, und ich muss sagen, Ihre fast ketzerische Ansicht diesbezüglich erstaunt mich ein wenig, mein lieber Bruder! Aber lassen Sie sich durch meinen Einwand vorerst nicht weiter irritieren. Bitte fahren Sie fort, Sie haben mich neugierig gemacht!«
Mit seiner Zwischenbemerkung hatte Telly im Handumdrehen die Atmosphäre im Raum deutlich verändert. Ähnlich wie Pulverdampf über einem Schlachtfeld lag plötzlich ein leiser Hauch von Scholastik und Inquisition in der Luft. Telly bemerkte, dass ihn die Anwesenden zum ersten Mal unverhohlen anstarrten. Einzig Nathan Brock beschäftigte sich seelenruhig und völlig unbeeindruckt weiter mit dem Inhalt seines Tellers.
Dr. Rademacher fasste nach einigen Schrecksekunden wieder Tritt: »Die Auslegung der Bibel, lieber Mr. Suntide, ist ein Fachgebiet, das ich Ihnen gewiss nicht streitig machen will, denn Sie sind der Fachmann. Ich stelle hier keine religiösen Standpunkte zur Debatte, sondern berichte nur über den Stand der Dinge, soweit sie meine Arbeit und Forschung betreffen! Lassen Sie mich also
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