Das Nazaret-Projekt
Ahnung, was soeben mit ihm geschehen war. Die Entdeckung der Signatur auf dem Gemälde hatte ihn zwar gehörig überrascht und verblüfft, aber das wäre wohl normalerweise kein Grund für seinen merkwürdigen Zusammenbruch gewesen. Plötzlich war er wie von einer überirdischen Kraft überwältigt worden, die sein innerstes Wesen ergriffen hatte und ihn auf rätselhafte und beängstigende Weise bis auf den letzten Winkel durchleuchtet und gleichzeitig vor sich selbst entblößt hatte. Ein Licht hatte ihn erfasst, ein Licht ohne jede Strahlung, denn es war die Essenz allen Lichtes, es war das Sehen selbst!
Mit Staunen und Ehrfurcht erkannte Telly, welch göttliche Gnade ihm in diesem kostbaren Augenblick geschenkt worden war. Befreit und wie von selbst stieg zum ersten Mal ein wahrhaftiges Gebet von seinem Herzen auf; dem Herzen, das mit dem physischen Organ gleichen Namens nichts gemein hatte und doch in seiner Brust wohnte. Etwas oder Jemand hatte dieses spirituelle Herz berührt und für kurze Zeit geöffnet!
Der Prediger erhob sich etwas unsicher und betrachtete nachdenklich noch einmal das Gemälde, dessen Symbolik nun für ihn eine ganz neue Vielschichtigkeit und Tiefe gewonnen hatte, die ihm zuvor verschlossen gewesen war. Es sollte der Beginn einer Transformation sein, deren Ausmaß er noch nicht einmal ahnen konnte.
Plötzlich ertönte die tiefe Stimme Brocks hinter seinem Rücken und Telly fuhr erschrocken herum, denn er hatte geglaubt, immer noch alleine in der Bibliothek zu sein.
»Ist es nicht seltsam, dass das Böse in der Welt nicht in dem Maße abnimmt, wie das Gute vielleicht zunehmen mag? Der Teufel muss wahrhaft mächtig sein!«
Telly hatte das unerfreuliche Gefühl, von dem dröhnenden Lachen des Tycoons buchstäblich verschüttet zu werden. Mit leicht gequältem Lächeln schloss er sich nur zögerlich der unerklärlichen Heiterkeit seines Gastgebers an.
Nacheinander betraten dann mehrere Personen die Bibliothek, deren Gesichter Telly schon von der Begrüßungszeremonie im Tempel her kannte. Als Nachzügler erschien Doktor Rademacher, der Genforscher aus dem Biotechzentrum Martinsried bei München, mit dem er sich auf der ›Rosebud‹ schon ein wenig unterhalten hatte. Ein etwas humorloser Wissenschaftler, der nur für seine Arbeit und Forschung zu leben schien.
Nathan machte Telly mit den Gästen bekannt und bat die Anwesenden dann, an dem gedeckten Tisch Platz zu nehmen. Er selbst blieb stehen, nahm sich ein Glas Champagner von dem Tablett, das ein waschechter englischer Butler herumreichte und brachte einen Toast aus auf die Teilnehmer der Runde und den Erfolg des Projektes ›Nazaret‹. Telly mochte dieses Getränk nicht sonderlich, aber er nippte höflich an seinem Glas.
Der Butler, der übrigens tatsächlich James hieß, begann unverzüglich mit dem Auftragen der Vorspeise. Telly war darüber hoch erfreut, denn mittlerweile hatte er Hunger wie ein Wolf. Er konzentrierte sich deshalb erst einmal auf das vorzügliche Mahl und nahm nur sparsam an der zwanglosen Unterhaltung teil, die sich am Tisch zu entwickeln begann. Außerdem war er dankbar dafür, dass ihn niemand mit neugierigen Fragen belästigte. Irgendwann fiel ihm dann auf, dass der Stuhl ihm gegenüber leer geblieben war.
Die Gesellschaft war zunehmend lustiger und lauter geworden, und als Telly sich nach dem ersten Gang leise rülpsend für eine kleine Verschnaufpause in seinen Sessel zurücklehnte, nahm Nathan Brock das als Anlass, um sich zu erheben und seine Gäste um die geschätzte Aufmerksamkeit zu bitten.
»Meine lieben Brüder und Schwestern. Es tut mir aufrichtig leid, Ihre Gespräche zu unterbrechen, aber lassen Sie uns den Grund für unser Zusammensein heute Abend nicht aus den Augen verlieren! Unser verehrter Reverend Suntide wird sich nämlich schon langsam fragen, ob er es hier nur mit netten Spinnern und freundlichen Phantasten zu tun hat. Ich möchte Sie, werter Doktor Rademacher, deshalb als Ersten bitten, Bruder Suntide mit den Grundlagen und Ergebnissen Ihrer fabelhaften Arbeit vertraut zu machen, damit er sich endlich ein realistisches Bild von unserem Vorhaben machen kann. Schließlich ist es essentiell, dass er als Prediger und Wegbereiter die Ankunft unseres Herrn nicht nur aus dem Glauben, sondern auch aus dem Wissen und der Zeugenschaft heraus verkünden kann! Ich danke Ihnen!«
Der Doktor nahm noch schnell einen großen Schluck Rotwein, betupfte seine Lippen mit einer Serviette und erhob sich
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