Das Niebelungenlied
»Hilf doch, lieber Bruder, hier kämpft einer mit mir, der läßt mich nicht heil davonkommen.« Dancwart sagte: »Das will ich entscheiden« und sprang heran und tötete Gelpfrât in einem Schlage. Else wollte ihn rächen, aber er und seine Leute kamen übel davon: Sein Bruder war tot, er selbst war verwundet. Achtzig seiner Männer fanden einen bitteren Tod, er selbst mußte vor Gunthers Leuten fliehen. Als die Bayern zurückwichen, hörte man die Schläge hinterdreinfallen, die von Tronege setzten ihren Feinden nach. Die hofften, es nicht entgelten zu müssen, und ritten davon, so schnell sie konnten. Dancwart sagte, während sie flohen: »Wir sollten wieder umkehren und sie reiten lassen, sie sind blutüberströmt. Eilen wir zu den Unseren zurück. Das halte ich für besser.« Als sie zum Kampfplatz zurückkamen, ließ Hagen feststellen, wer ihnen fehlte und wen sie im Kampf verloren hatten. Vier waren tot, damit mußten sie sich abfinden. Aber sie waren reichlich gerächt: Hundert oder mehr Bayern waren dafür erschlagen, von deren Blut die Schilde der von Tronege trüb und naß waren. Der Mondschein brach ein wenig durch die Wolken. Hagen sagte: »Keiner soll den Königen erzählen, was wir hier erlebt haben. Laßt sie bis morgen ohne Sorge.« Als die Kämpfer die anderen eingeholt hatten, wurde dem ganzen Zug die Müdigkeit zur Last, und mancher fragte: »Wie lange sollen wir noch reiten?«, und Volkêr erkundigte sich, wo man heute nacht rasten werde. Dancwart sagte: »Ich kann es Euch nicht sagen. Wir dürfen nicht rasten vor Tag. Wo wir dann etwas finden, wollen wir uns im Gras lagern.«Viele hörten das mit Mißbehagen. Das Blut konnte sie nicht verraten, bis der helle Sonnenschein am Morgen über die Berge kam und der König sah, daß sie gekämpft hatten. Erzürnt sagte Volkêr: »Was soll das, Hagen? Ihr verschmähtet es wohl, mich dabei zu haben, als die Ringe Euch so naß von Blut wurden. Wer ist das gewesen?« Hagen antwortete: »Das war Else, er hat uns in der Nacht angegriffen. Sie fielen ihres Fährmanns wegen über uns her. Mein Bruder hat Gelpfrât erschlagen. Else ist uns entkommen, sein Mißerfolg trieb ihn davon – er hat hundert im Kampf verloren und wir vier.«
Wir können nicht sagen, wo sie sich ausruhten. Die Landleute sahen sie dahinreiten. In Passau wurden sie freundlich empfangen, denn der Onkel der Könige, Bischof Pilgrîn, freute sich, daß sie mit so vielen Rittern zu ihm gekommen waren, und sie erfuhren seine Ergebenheit. Sie wurden auf der Straße vor Passau von Freunden begrüßt; in der Stadt konnte man sie nicht unterbringen, und sie mußten über den Inn setzen, wo sie freies Gelände fanden. Dort wurden die Zelte aufgebaut. Sie blieben einen ganzen Tag und eine Nacht lang, es wurde gut für sie gesorgt. Dann ritten sie in das Land Rüedegêrs, der davon bald erfuhr.
Als sie sich ausgeruht hatten und sich der Grenze näherten, fanden sie da einen schlafenden Mann. Hagen nahm ihm die Waffen ab. Dieser Grenzwächter war Eckewart. Er war verzweifelt über den Verlust seiner Waffen; die Burgunden fanden Rüedegêrs Grenze schlecht bewacht. »Diese Schande«, sagte Eckewart. »Diese Reise der Burgunden ist ein Unglück für mich. Seit ich Sîfrit verlor, ist mir die Freude vergangen. Wehe, was habe ich dir angetan, Herr Rüedegêr!« Als Hagen ihn klagen hörte, gab er ihm seine Waffen zurück und dazu sechs goldene Armreifen. »Nimm sie wieder, Ritter, zur Versöhnung und zum Zeichen der Freundschaft.Du bist ein tapferer Kämpfer, so allein du hier auch liegst auf der Grenze.« – »Gott lohn Euch für die Reifen«, sagte Eckewart. »Aber ich fürchte für Eure Fahrt zu den Hunnen. Ihr habt Sîfrit erschlagen, man ist Euch feind hier. Ich rate Euch aufrichtig, nehmt Euch wohl in acht.« – »Das steht in Gottes Hand«, antwortete Hagen. »Einstweilen haben wir keine andere Sorge, als wo wir in diesem Land heute ein Nachtquartier bekommen werden. Die Pferde sind erschöpft auf dem weiten Weg, unsere Eßvorräte sind ausgegangen, nirgends gibt es etwas zu kaufen. Wir brauchen einen Gastgeber, der uns heute noch bewirtet um seiner Ehre willen.« Da sagte Eckewart: »Ich werde Euch einen Gastgeber zeigen, Ihr werdet selten so gut in einer Burg eingekehrt sein wie heute, wenn Ihr zu Rüedegêr geht. Er wohnt nahe an der Straße, und er ist der beste Wirt, der je ein Haus erworben hat, er ist mit guten Eigenschaften geschmückt wie die Wiese mit Blumen im Mai. Er freut sich,
Weitere Kostenlose Bücher