Das Notizbuch von Sherlock Holmes, Bd. 5
bedrückt sie. ›Mord!‹ schreit sie, ›Mord!‹ Und einmal habe ich gehört: ›Du grausame Bestie! Du Monster!‹ Das war in einer Nacht, und es schallte ganz schön durchs Haus, mir ist es richtig kalt den Rücken runtergelaufen. Am Morgen bin ich dann zu ihr gegangen. ›Mrs. Ronder‹, hab ich gesagt, ›wenn Sie irgendwas bedrückt, dafür gibt’s den Pastor‹, sage ich, ›und die Polizei. Eins von beidem sollte helfen können.‹
›Um Gottes willen, nicht die Polizei!‹ sagt sie, ›und der Pastor kann nichts ändern, was vorbei ist. Und doch‹, sagt sie, ›würde es mein Gewissen erleichtern, wenn jemand die Wahrheit wüßte, ehe ich sterbe.‹ – ›Na gut‹, sage ich, ›wenn Sie mit den Offiziellen nichts zu tun haben wollen, da gibt es den Detektiv, von dem wir gelesen haben‹ – entschuldigen Sie, Mr. Holmes. Und sie, sie ist ganz aus dem Häuschen. ›Das wäre der Mann‹, sagt sie. ›Warum bin ich nicht schon selber drauf gekommen. Bringen Sie ihn her, Mrs. Merrilow, und wenn er nicht kommen will, sagen Sie ihm, ich bin die Frau von dem Ronder mit der Tierschau. Sagen Sie ihm das und nennen Sie den Namen Abbas Parva.‹ Hier hat sie es aufgeschrieben: Abbas Parva. ›Dann wird er kommen, wenn er der Mann ist, für den ich ihn halte.‹«
»Und ich werde kommen«, bemerkte Holmes. »Also gut, Mrs. Merrilow. Jetzt möchte ich mich ein bißchen mit Dr. Watson unterhalten. Das dauert ungefähr bis zum Lunch. Gegen drei Uhr können Sie uns in Ihrem Haus in Brixton erwarten.«
Kaum war unsere Besucherin aus dem Zimmer gewatschelt – Mrs. Merrilows Art, sich fortzubewegen, kann man nicht anders bezeichnen –, da stürzte sich Sherlock Holmes mit wilder Energie auf den Stapel seiner Aufzeichnungen in der Ecke. Einige Minuten war nichts als das Geräusch des Umblätterns zu hören, und dann vernahm ich ein befriedigtes Grunzen; er war auf die Stelle gestoßen, die er gesucht hatte. Er war so aufgeregt, daß er sich nicht einmal erhob, sondern, seltsam wie ein Buddha anzuschauen, mit gekreuzten Beinen auf dem Boden sitzen blieb, um sich herum die großen Archiv-Bände, einen davon auf den Knien.
»Seinerzeit habe ich mich mit dem Fall abgeplagt, Watson. Das können Sie hier an den Randbemerkungen erkennen. Ich gestehe, ich habe nicht viel mit ihm anfangen können. Und doch war ich überzeugt, daß der Coroner mit seiner Meinung nicht recht hatte. Erinnern Sie sich nicht an die Tragödie, die der Name Abbas Parva hervorruft?«
»Nein, Holmes.«
»Und doch haben wir schon damals zusammengearbeitet. Aber auch meine Kenntnis blieb oberflächlich, weil es nichts gab, woran man sich halten konnte, und weil keine der Parteien meine Dienste in Anspruch nahm. Mochten Sie die Papiere nicht lesen?«
»Könnten Sie mir wohl das Wichtigste erzählen?«
»Das ist schnell geschehen. Vielleicht erinnern Sie sich wieder, wenn Sie zuhören. Ronder, das war ein stehender Begriff. Er war der Konkurrent von Wombwell und von Sanger, einer der größten Schausteller seiner Zeit. Doch es ist erwiesen, daß er zu trinken anfing, er und seine Schau waren auf dem absteigenden Ast, als sich die große Tragödie ereignete. Die Truppe kampierte über Nacht in Abbas Parva, einem kleinen Dorf in Berkshire, als das Schreckliche geschah. Sie waren unterwegs nach Wimbledon, zogen über die Landstraßen; sie hatten nur ihr Lager aufgeschlagen und die Schau nicht gezeigt, da der Ort so klein war, daß sich eine Vorstellung nicht gelohnt hätte.
Unter den Tieren befand sich ein prächtiger nordafrikanischer Löwe. Sie nannten ihn ›König der Sahara‹, und Ronder und seine Frau pflegten das Tier in seinem Käfig zu präsentieren. Hier ist eine Fotografie von der Nummer, und darauf sehen Sie, daß Ronder groß und fett, seine Frau aber sehr schön war. Bei der Voruntersuchung wurde ausgesagt, es habe Anzeichen dafür gegeben, daß der Löwe gefährlich war, jedoch hätte, wie gewöhnlich, Vertrautheit zur Geringschätzung der Gefahr geführt, niemand widmete dem Umstand Aufmerksamkeit.
Ronder oder seine Frau gingen immer abends den Löwen füttern. Manchmal tat das einer allein, manchmal taten es beide, aber sie erlaubten nie jemand anderem, das Tier zu füttern, denn sie glaubten, wenn nur sie dem Löwen zu fressen gäben, würde er sie als seine Wohltäter ansehen und sie nie belästigen. An diesem Abend nun, vor sieben Jahren, gingen sie beide zu dem Tier, und es passierte etwas
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