Das Notizbuch von Sherlock Holmes, Bd. 5
als er dem Inspektor das Papier zurückgab. »Haben Sie bemerkt, wie das Er plötzlich zum Ich überwechselt? Der Schreiber war von seiner eigenen Geschichte derart mitgerissen, daß er sich auf dem Höhepunkt einbildete, selber der Held zu sein.«
»Scheint mir ziemlich armseliges Zeug«, sagte der Inspektor und steckte das Blatt wieder in seine Brieftasche. »Wie, Mr. Holmes? Sie wollen gehen?«
»Ich denke, hier gibt es für mich nichts mehr zu tun, da der Fall in solch bewährten Händen ruht. Übrigens, Mrs. Maberley, sagten Sie nicht, Sie würden gern reisen?«
»Das war von jeher mein Traum, Mr. Holmes.«
»Wohin würden Sie denn gern fahren – nach Kairo, nach Madeira, an die Riviera?«
»Ach, wenn ich das Geld hätte, würde ich rund um die Welt reisen.«
»Recht so. Rund um die Welt. Na denn, guten Morgen. Vielleicht lasse ich Ihnen heute abend eine Nachricht zukommen.« Als wir draußen am, Fenster vorübergingen, sah ich, wie der Inspektor lächelte und den Kopf schüttelte. »Diese schlauen Jungs haben doch immer einen Sparren lose«: das war es, was ich aus dem Lächeln des Inspektors las.
»Und jetzt, Watson, liegt vor uns die letzte Etappe unserer kleinen Reise«, sagte Holmes, als uns wieder der Tumult der Londoner City umgab. »Ich denke, wir sollten die Geschichte sofort zu Ende bringen, und da wäre es gut, Sie könnten mit mir kommen. Denn es ist immer gut, einen Zeugen zu haben, wenn man es mit einer Dame wie Isadora Klein aufnimmt.«
Wir saßen in einer Droschke, die uns zu einem Haus am Grosvenor Square fuhr. Holmes saß in Gedanken verloren, aber plötzlich kam er in die Gegenwart zurück.
»Übrigens, Watson: Ich nehme an, Sie sehen klar?«
»Nein, das kann ich nicht behaupten. Ich vermute nur, wir fahren zu der Dame, die hinter all dem Übel steckt.«
»Genau! Aber weckt der Name Isadora Klein in Ihnen nichts? Sie war doch die gefeierte Schönheit. Keine andere reichte an sie heran. Sie ist rein spanischer Abstammung, aus dem Blut der mächtigen Conquistadoren, und ihre Familie herrschte generationenlang in Pernambuco. Sie heiratete den ältlichen deutschen Zuckerkönig Klein und war bald die reichste und wunderschönste Witwe von der Welt. Es folgte eine Zeit der Abenteuer; sie lebte ganz nach ihrem Geschmack. Sie hatte mehrere Liebhaber, und Douglas Maber ley, eine der auffallendsten Erscheinungen Londons, war es auch.
Für ihn bedeutete die Beziehung in jeder Hinsicht mehr als ein Abenteuer. Er war kein Gimpel aus der besseren Gesellschaft, sondern ein starker, stolzer Mann, der alles gab und alles erwartete. Aber sie ist die belle dame sans merci , wie aus einem Roman entstiegen. Wenn ihre Laune befriedigt ist, hat sich die Angelegenheit für sie erledigt, und wenn der Partner es nicht glauben will, dann weiß sie, wie sie es ihm begreiflich macht.«
»Dann war das also seine eigene Geschichte…«
»Aha, Sie fügen jetzt die Stücke zusammen. Wie ich erfuhr, steht sie vor der Hochzeit mit dem jungen Duke of Lomond, der fast ihr Sohn sein könnte. Die Mama Seiner Gnaden würde über den Altersunterschied hinwegsehen, aber ein großer Skandal wäre natürlich etwas anderes. Also ist es unumgänglich… Ah, wir sind schon da!«
Es war eines der schönsten Eckhäuser im West End. Ein Diener, der sich wie ein Automat bewegte, nahm unsere Visitenkarten und kam mit dem Bescheid zurück, die Dame sei nicht zu Hause.
»Dann warten wir, bis sie zu Hause ist«, sagte Holmes fröhlich.
Der Apparat geriet durcheinander.
»Nicht zu Hause, heißt: für Sie nicht zu Hause«, sagte der Diener.
»Gut«, antwortete Holmes. »Das bedeutet also, wir brauchen nicht zu warten. Dann überbringen Sie Ihrer Herrin diese Nachricht.«
Er kritzelte ein paar Worte auf ein Blatt aus seinem Notizbuch, faltete es und reichte es dem Mann.
»Was haben Sie geschrieben, Holmes?« fragte ich.
»Einfach: ›Soll ich die Sache der Polizei übergeben?‹ Ich nehme an, damit werden wir vorgelassen.«
Und so geschah es – erstaunlich schnell. Eine Minute später befanden wir uns in einem Salon aus Tausendundeiner Nacht, weit und wunderschön in einer dämmerigen Beleuchtung, gespendet von einigen rosafarbenen elektrischen Lampen. Die Dame schien nach meinem Gefühl in das Alter gekommen, in dem auch die stolzeste Schönheit gedämpftes Licht bevorzugt. Als wir eintraten, erhob sie sich von einer Polsterbank:
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