Das Notizbuch von Sherlock Holmes, Bd. 5
zu dem, was sie sagt –, ihr Vater erinnere sich an wenig oder nichts, was sich an bestimmten Tagen ereignet. Deshalb werden wir ihn an solch einem Tag besuchen und so tun, als hätte er sich mit uns verabredet. Er wird es auf seine Gedächtnislücken schieben. So werden wir unsere Schlacht eröffnen, indem wir ihn uns genau ansehen.«
»Das ist hervorragend«, sagte Mr. Bennett. »Dennoch muß ich Sie warnen, denn der Professor ist zuzeiten jähzornig und gewalttätig.«
Holmes lächelte. »Es gibt Gründe, weshalb wir ihn sofort aufsuchen sollten – gewichtige Gründe, wenn meine Theorie zutrifft. Morgen, Mr. Bennett, werden wir uns bestimmt in Camford sehen. Wenn ich mich recht erinnere, gibt es dort ein Gasthaus ›Zum Schachbrett‹, wo der Portwein nicht schlecht ist und die Bettbezüge keinen Anlaß zur Klage geben. Ich glaube, Watson, wir beide hätten die nächsten Tage unter weniger angenehmen Umständen verbringen können.«
Am Montagmorgen waren wir auf dem Weg zu der berühmten Universitätsstadt – ein Leichtes für Holmes, der keine Wurzeln hatte, von denen er sich losreißen mußte, für mich aber eine Sache, die mich in fieberhafte Planungen und in Eile gestürzt hatte, da meine Praxis zu dieser Zeit durchaus nicht unbeträchtlich war. Holmes machte keine Anspielung auf den Fall, bis wir unsere Koffer in dem alten Hotel abgestellt hatten.
»Ich denke, Watson, wir können den Professor noch vor dem Lunch abfangen. Er hat um elf eine Vorlesung und wird zu Hause eine Pause machen.«
»Welche mögliche Entschuldigung haben wir für unseren Besuch?«
Holmes warf einen Blick in sein Notizbuch.
»Am 26. August gab es eine Phase der Aufre
gung. Wir nehmen an, daß er ein bißchen unsicher ist in bezug auf das, was er in solchen Zeiten getan hat. Wenn wir darauf bestehen, daß wir auf eine Verabredung hin kommen, wird er, glaube ich, kaum daran denken, uns zu widersprechen. Haben Sie die Stirn, das durchzuhalten?«
»Uns bleibt nichts, als den Versuch zu ma
chen.«
»Hervorragend, Watson! Ein Kompositum aus ›Bienenfleiß‹ und ›Höhenflug‹. Uns bleibt nichts, als den Versuch zu machen: der Wahlspruch der Firma. Ein freundlicher Einheimischer wird uns sicherlich hinführen.«
Ein solcher auf dem Rücksitz eines flotten Hansom dirigierte uns an einer Reihe altertümlicher Cottages vorüber, und nachdem wir in einen baumgesäumten Fahrweg eingebogen waren, hielten wir vor der Tür eines bezaubernden Hauses, das von Rasen umgeben und mit roten Wisterien bedeckt war. Professor Presbury besaß nicht nur jede Art von Bequemlichkeit, sondern lebte luxuriös. Als wir vorfuhren, erschien im Fenster ein grauer Schopf, und wir sahen ein Paar spähende Augen unter buschigen Brauen, die uns durch eine große Hornbrille beobachteten. Eine Sekunde später waren wir wirklich in seinem Al lerheiligsten, und der geheimnisvolle Wissenschaftler, dessen tolle Streiche uns von London hierhergebracht hatten, stand vor uns. In seinem Benehmen oder in seiner Erscheinung lag kein Zeichen von Überspanntheit; er war ein gesetzter Mann mit einem großen Gesicht, ernst, hochgewachsen, trug einen Gehrock und gab sich mit der Würde, die ein Professor braucht. Die Augen beherrschten das Gesicht, sie waren scharf, beobachtend und klug bis an die Grenze der Verschlagenheit.
Er sah auf unsere Visitenkarten. »Bitte, setzen Sie sich, meine Herren. Was kann ich für Sie tun?«
Holmes lächelte liebenswürdig.
»Das ist eben die Frage, Herr Professor, die ich an Sie stellen wollte.«
»An mich, mein Herr?«
»Vielleicht liegt ein Irrtum vor. Ich hörte durch eine zweite Person, daß Professor Presbury aus Camford meine Dienste brauche.«
»Ach, wirklich!« Es schien mir, als leuchtete in seinen gespannten grauen Augen ein boshafter Funke auf. »Das haben Sie wirklich gehört? Dürfte ich den Namen Ihres Informanten wissen?«
»Es tut mir leid, Herr Professor, aber die Sache war ziemlich vertraulich. Wenn ich einen Fehler gemacht haben sollte, es hat ja keinem weh getan. Ich kann nur mein Bedauern aussprechen.«
»Aber nicht doch. Ich möchte tiefer in die Angelegenheit eindringen. Sie interessiert mich. Haben Sie irgendein Papier, einen Brief oder ein Sie irgendein Papier, einen Brief oder ein Telegramm, das Ihre Angabe belegen könnte?«
»Nein. Dergleichen habe ich nicht.«
»Ich nehme an, Sie gehen nicht so weit, zu behaupten, ich hätte
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