Das Opfer
E-Mail schicken?«
O’Connell atmete heftig aus. »Wieso nicht. Aber eins müssen Sie mir schon versprechen, Mr. Jones oder Smith, verflucht noch mal, dass mein Junge dabei nicht draufgeht.«
»Meinetwegen«, log Scott mühelos. »Das kann ich Ihnen gerne versprechen. Sobald Sie von Ihrem Jungen hören, schicken Sie an diese Adresse eine E-Mail.« Er ging zu dem Tisch, fand eine offene Telefonrechnung und einen Bleistiftstummel. Dann erfand er aus dem Stegreif eine E-Mail-Anschrift und schrieb sie auf.
Er reichte O’Connell den Zettel. »Verlieren Sie die nicht. Und unter welcher Telefonnummer kann ich Sie erreichen?«
Der Senior ratterte die Nummer herunter, während er auf die E-Mail-Adresse starrte. »Okay«, meinte O’Connells Vater. »War’s das?«
Scott lächelte. »Wir werden uns nicht wiedersehen. Und falls irgendjemand Sie fragt, sind Sie bestimmt so vernünftig und sagen, dass dieses kleine Treffen nie stattgefunden hat. Sollte Ihr Sohn dieser Jemand sein, nun ja, dann gilt diese Warnung natürlich umso mehr. Haben wir uns verstanden?«
O’Connell sah sich noch einmal die Adresse an, grinste und zuckte die Achseln. »Geht klar.«
»Gut. Bleiben Sie sitzen, ich finde selbst hinaus.«
Scotts Puls raste, als er langsam zur Tür ging. Er wusste, dass irgendwo hinter ihm nicht nur der Axtstiel war, sondern auch eine Pistole, von der ihm die Nachbarn berichtet hatten, und darüber hinaus aller Wahrscheinlichkeit nach eine Schwerkaliberflinte; der glasäugige Hirschkopf an der Wand legte das nahe. Er musste darauf vertrauen, dass O’Connells Vater nicht so geistesgegenwärtig war, sein Kennzeichen zu notieren, auch wenn der markante kleine Porsche ohnehin nicht schwer wiederzuerkennen war. Scott schärfte sich auf dem Weg zum Auto jede Einzelheit ein; möglicherweise würde er wieder herkommen, und dann wollte er genau im Kopf haben, wie die Möbel standen. Er registrierte das leichte Schloss an der Tür und verließ das Haus. Gier war eine schreckliche Sache, und jemand,der sein eigenes Kind für Geld ans Messer lieferte, musste von einer Grausamkeit sein, die jenseits seiner eigenen emotionalen Reichweite lag.
Er merkte, wie ihn eine plötzliche Woge der Übelkeit überkam. Immerhin konnte er noch klar genug denken, um kurz um die Ecke hinters Haus zu schauen und die zusätzliche Tür zu entdecken, mit der er gerechnet hatte. Dann machte er kehrt und lief zügig die Einfahrt zurück zur Straße. Am Horizont zogen graue Wolken auf.
Michael O’Connell fand, dass er sich in den letzten Tagen entschieden zu rar gemacht hatte.
Wenn er Ashley zwingend klarmachen wollte, dass niemand außer ihm sie beschützen konnte, dann musste er ihr zeigen, wie gefährdet sie und ihre Familie waren. Das Einzige, was sie daran hinderte, das ganze Ausmaß seiner Liebe zu erkennen und zu sehen, wie leidenschaftlich er sich danach sehnte, sie an seiner Seite zu haben, war der Kokon, den ihre Eltern um sie gesponnen hatten. Und wenn er an Catherine dachte, dann hatte er einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Sie war alt, sie war gebrechlich, und sie lebte allein da draußen, und er hatte es trotzdem versäumt, sie auszuschalten, obwohl es ein Leichtes gewesen wäre und er sie direkt vor sich gehabt hatte. Er beschloss, diesen Fehler nicht noch einmal zu begehen.
Er saß an seinem Computer und spielte ziellos mit dem Kursor, ohne zu merken, wie still es um ihn war. Der Laptop war neu. Nachdem Matthew Murphy seinen alten zertrümmert hatte, war ihm nichts anderes übriggeblieben, als augenblicklich für Ersatz zu sorgen. Nach einer Weile fuhr er den Computer herunter und wandte sich vom Schreibtisch ab.
Er hatte das unbezwingbare Bedürfnis, etwas Überraschendes zu tun, etwas, womit er Ashley auf sich aufmerksam machenwürde, etwas, das sie nicht ignorieren konnten und das ihr begreiflich machte, wie sinnlos es war, vor ihm davonzulaufen.
Er stand auf und streckte die Glieder, indem er die Arme hinter dem Kopf verschränkte, den Rücken krümmte und dabei unbewusst die Katzen im Hausflur nachahmte. Michael O’Connell fühlte sich plötzlich unglaublich stark. Er musste Ashley einmal wieder einen Besuch abstatten, und wenn auch nur, um sie daran zu erinnern, dass er noch da war und auf sie wartete. Er nahm seine Winterjacke und seine Autoschlüssel. Ashleys Familie hatte keine Ahnung, wie nahe Liebe und Tod beieinanderlagen. Er lächelte bei dem Gedanken, dass sie offenbar nicht im Mindesten begriffen,
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