Das Paradies
gewundert. »Samsa, was ist eigentlich dein Problem?« Das fand ich ganz interessant, denn sonst begreift jeder, dem nicht alle Hirnzellen verbrannt sind, dass es Käfer in dieser Welt nicht gut haben. Ungünstig, wenn man sich in einen verwandelt. Weil es eine Metapher ist, hat die Verwandlung aber offenbar dann doch nicht stattgefunden. Ich würde gern einmal zurückspulen und das Buch das erste Mal lesen, und zwar ab Seite drei. Das Problem eines Außenseiters ist doch nicht, dass er sich wie ein Käfer fühlt. Denn die Gesellschaft denkt da nicht an Kafka, denkt nicht so romantisch, denkt nicht, dass hier einer irgendwie anders ist. Man denkt eher so: »Samsa, reiß dich zusammen.«
Der Platz ist übersichtlich. Egal, wohin man läuft, fluchtartig irgendwohin, wo nichts ist. Was sollen wir uns angucken, wo bekommen wir die Horror-Holocaust-Show? Ist doch nichts hier. Zerstreuung. »Hier das ist der Appellplatz und da, umdrehen, sind die Baracken gewesen.« Nichts mehr, worauf zu zeigen wäre. Kies, grau, der Himmel hängt tief. Als wäre der Berg so hoch, dass man mit dem Kopf an den Himmel stoßen könnte. Appellplatz und die Häftlingsbaracken sind eines. Nur kleine Schilder zeigen auf die längst abgerissenen Baracken.
Unter den Mädchen wird die total beliebte Mengele-Literatur besprochen. »Ja, weißte noch, wie die denen die Haut, Zähne, krass, ne?« Ich bekomme einen Zettel: »Hi, wie wär’s mit uns? Was machst du am Nachmittag?« Kein Name drunter. Herr Stubendorff erzählt von der Hexe von Buchenwald. Sie habe rote Haare gehabt. Täglich sei sie |134| durchs Häftlingslager geritten und habe tätowierte Männer als Lampenschirme ausgesucht. Ich stelle mir eine Frau mit brennenden Haaren auf einem schwarzen Ross vor, das Haizähne hat. Einige schreiben fleißig mit. »Was, was? Hat er Tattoo gesagt? Welche Haarfarbe hatte die?«
»Sag mal, Anika, seh ich das richtig, dass du dir ’ne Zigarette anzündest?« Herr Stubendorff ist ungehalten.
»Hä, was?«
»Mach sofort die Kippe aus.«
»Darf ich noch einmal ziehen?«
»Was?«
»Boah, das bisschen Rauch stört hier bestimmt keinen mehr.«
»Der Rauch«, das hören wir den Leiter der Gedenkstätte einer von einem dicken Parfumschleier umhüllten Rentnergruppe sagen, die da gerade und gesund und vor allem recht schlank auf dem Appellplatz steht. Perlenketten sind zu sehen und Seidenblusen und weiße Turnschuhe. »Der Rauch«, sagt der blasse Leiter, »drückte auch schon ins Tal und Ruß war auf den Straßen. Am Ende versagten hier die Krematorien, weil so viele Leichen verbrannt werden mussten. Die sind mit Transportern nach Weimar gefahren worden, und da fiel schon mal eine Leiche auf die Straße … Mach sofort die Kippe aus, Anika. Sofort, hab ich gesagt. Weg damit! Das darf doch nicht wahr sein. Du bist im Konzentrationslager!«
»Ach ne!?«
»Ich würde dich gern küssen«, sagt David. Wir küssen uns als sei es das erste Mal.
Die Sonne scheint. Der Wald rauscht. Im Ethikunterricht hat die Klasse einmal darüber abgestimmt, welche Regel, |135| welcher Leitsatz dem Menschen am besten steht. Heraus kam: »Jedem das Seine.« Jedem das Seine, das sei eigentlich ein richtiger Satz. Jeder bekommt das, was er braucht. Ich habe vergessen, wie das Gegenteil von »klaustrophobisch« heißt, aber so fühlt es sich in Buchenwald an. Man kann sich nirgends verstecken. Nur ein großer, weiter Platz. Jedem das Seine. Als die Sonne hinter den Wolken hervorkommt, denke ich: Ist nur die Frage, wer das entscheidet.
»Und dann kamen die Russen und haben uns befreit«, beschließe ich einen kurzen, improvisierten Vortrag.
Herr Stubendorff nimmt mich zur Seite: »Die Alliierten haben Buchenwald befreit. Das ist aber nicht schlimm, weil, wir haben das ja alle so gelernt, dass die Russen eben kamen. Und uns alle befreit haben.«
»Die, ähm, na, die Engländer haben Buchenwald dann befreit.«
»Danke für den kleinen Vortrag, schade, dass deine Mutter nicht hier hochkommt, die hätte uns sicher spannende Geschichten erzählt.«
»Bestimmt. Aber sie kommt nicht hierher. Niemals.«
Eine Gruppe Asiaten verlässt das Krematorium und läuft Richtung Ausgang. Sie fotografieren nicht mehr viel. Sie gehen an unserer Schulgruppe vorbei und lächeln und bleiben stehen und hören etwas unserem Lehrer Herr Stubendorff zu, der dadurch noch einmal Fahrt bekommt und etwas lauter seinen Vortrag über die Hexe von Buchenwald spricht. Es schaudert alle. »Wie
Weitere Kostenlose Bücher