Das Paradies der Damen - 11
endgültige Zusammenbruch war nur mehr eine Frage allerkürzester Zeit.
»Der Vater ist oben«, fuhr Frau Baudu mit gebrochener Stimme fort. »Wir lösen einander alle zwei Stunden ab; es muß doch jemand hier im Laden sein, nur sicherheitshalber, denn im Grunde …«
Eine Handbewegung sagte alles. Sie hätten schließen können, wenn ihr alter kaufmännischer Stolz sie nicht daran gehindert hätte.
»Dann will ich hinaufgehen, Tante«, sagte Denise, der sich angesichts dieser Verzweiflung das Herz zusammenkrampfte.
»Ja, geh hinauf, geh rasch, mein Kind. Sie erwartet dich, sie hat die ganze Nacht nach dir gefragt. Sie hat dir etwas zu sagen.«
In diesem Augenblick kam Baudu herunter. Er trat leise auf und flüsterte, als ob man ihn oben hören könnte:
»Sie schläft.«
Er sank in einen Sessel, dann murmelte er:
»Du wirst sie gleich sehen … Wenn sie schläft, sieht es immer aus, als würde sie wieder gesund.«
Sie schwiegen. Vater und Mutter saßen einander gegenüber und betrachteten sich stumm. Schließlich begann er sich in Klagen zu ergehen, ohne einen Namen zu nennen, ohne sich an jemand Bestimmten zu wenden.
»Ich hätte es nicht geglaubt, meine Hand hätte ich ins Feuer gelegt … Er war der letzte, ich hatte ihn erzogen wie meinen Sohn. Wenn einer gekommen wäre und mir gesagt hätte: ›Auch den werden sie dir nehmen, du wirst sehen, wie er seiner Wege geht‹, so hätte ich geantwortet: ›Dann gibt es keinen gütigen Gott mehr!‹ – Und er ist richtig gegangen! Dieser Unglücksmensch, er verstand sich so gut auf den wahren Handel, er dachte in allem so wie ich! … Und warum? Wegen einer Dirne, einer jener Puppen, die in zweideutigen Häusern herumlungern … Man könnte wahrhaftig den Verstand verlieren!«
Er schüttelte den Kopf, seine ausdruckslosen Augen starrten auf den abgenützten Fußboden.
»Wenn ihr es wissen wollt«, fuhr er dann mit noch leiserer Stimme fort, »es gibt Augenblicke, wo ich mich selbst für alles Unglück am meisten anklage. Ja, es ist meine Schuld, wenn unsere arme Tochter da oben liegt. Ich hätte sie längst verheiraten sollen, ohne meinem dummen Stolz nachzuhängen und meinem Eigensinn, in dem ich ihnen das Haus nicht in schlechterem Zustand übergeben wollte. Dann hätte sie ihn jetzt, und vielleicht hätte ihrer beider Jugend jenes Wunder zustande gebracht, das mir nicht gelungen ist … Aber ich bin ein alter Narr, ich habe nichts begriffen, ich glaubte nicht, daß man wegen solcher Dinge krank werden könnte … Wahrhaftig, er war ein außerordentlicher Bursche, so begabt für den Verkauf, so rechtschaffen und einfach, von solchem Ordnungssinn in allen Dingen. Ja, das war noch mal ein Schüler …«
Immer noch verteidigte er diesen Menschen, der ihn betrogen hatte. Denise konnte es nicht mehr mit anhören, wie er sich so selbst anklagte, und als sie ihn derart niedergeschlagen sah, in Tränen gebadet, ihn, der hier einst als unumschränkter Gebieter geschaltet hatte, da sagte sie ihm alles.
»Nehmen Sie ihn nicht in Schutz, Onkel. Er hat Geneviève niemals geliebt, und wenn Sie die Heirat beschleunigt hätten, wäre er schon früher durchgegangen. Ich selbst habe mit ihm gesprochen. Er wußte ganz gut, daß meine arme Kusine seinetwegen litt, und wie Sie sehen, hat es ihn nicht daran gehindert, davonzulaufen – Fragen Sie nur die Tante.«
Wortlos bestätigte Frau Baudu diese Eröffnung durch ein Kopfnicken. Da wurde der Tuchhändler noch blasser und stammelte:
»Dann ist alles aus! Sie haben unser Geschäft zugrunde gerichtet, und nun bringt eine ihrer Dirnen auch noch unser Kind um.«
Keiner sprach mehr. Plötzlich in diesem düsteren Jammer hörten sie irgendwoher aus dem Haus ein dumpfes Klopfen; es war Geneviève, die erwacht war und mit einem Stock, den man bei ihr gelassen hatte, Zeichen gab.
»Gehen wir hinauf«, sagte Baudu und sprang rasch auf. »Sei ein bißchen fröhlich, sie braucht nichts zu wissen …«
Als sie oben die Tür öffneten, hörten sie eine schwache Stimme rufen:
»Ich will nicht allein sein, laßt mich nicht allein … Ich habe Angst, wenn ich allein bin!«
Als sie Denise eintreten sah, beruhigte sich Geneviève, ein freudiges Lächeln trat auf ihre blassen Lippen.
»Da sind Sie endlich!« sagte sie. »Wie sehnsüchtig habe ich seit gestern auf Sie gewartet! Ich glaubte schon, auch Sie hätten mich verlassen.«
Es war ein wahrer Jammer. Das Zimmer des Mädchens ging auf den Hof, es war ein kleines Gelaß, in das nur
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