Das Paradies des August Engelhardt
ausgezogen haben, weil der Maler das befahl? Der Wettlauf, wer schneller nackt ist? Weißt du noch, August, unsere Wanderungen durch Deutschland und das Bergsteigen in den Alpen? An jeden Schritt erinnere ich mich und wie du mich beim Abstieg vom Tödi getragen hast. Wisst ihr noch, die Strafkompanie. Die Nächte im Schlamm? Smndenlang das Gewehr auseinandernehmen und wieder zusammenbauen? Wie Diefenbach den Kopf schräg legte, wenn ihm etwas wichtig war? Nur über Anna schwieg Engelhardt, über das Annabuch, das Diefenbach ihm weggenommen hatte, seine Annabibel, kein Wort davon, und von den Seiten über ihre Haare. Die Augen. Den Mund. Die Biegung der Wirbelsäule. Er schwieg über das, was Fidus gesagt hatte, sie ist natürlich und unverdorben wie die Wilden, ein reines Wesen, eine Lichtbringerin, denn all das war vorbei, nur die Gegenwart war wichtig, und dass man sie ganz erlebte, kein Wort über Anna und kein Gedanke, während Wilhelm nach der Gitarre griff und ein paar Lieder zupfte, beiläufig wie ein lauer Wind, während die Wellen leise den Takt schlugen, Walter die Melodie summte und er selbst dabei einschlief; es war gut, Freunde zu haben. Am nächsten Morgen brachte er Wilhelm bei, auf die Palmen zu klettern und die richtigen Nüsse zu ernten. Der lernte schnell, er war kräftig und leicht, und gemeinsam saßen sie im Wipfel eines Baumes und blickten übers Meer auf die blaugrünen Berge der Gazellenhalbinsel. Wilhelm erzählte von Deutschland, das immer kälter wird, immer ungeistiger, immer materieller und auf dem besten Weg ist, unterzugehen, und sich diesem Untergang verzweifelt entgegenstemmt und Kathedralen des Konsums baut, die immer größer und abstoßender werden. In Berlin hat gerade das KaDeWe eröffnet, ein perverser Einkaufstempel, so nennen das die Leute sogar, ein Tempel, als wüssten sie, dass sie ums Goldene Kalb tanzen, und als ob ihnen das dennoch ganz gleich ist, während man nicht weit davon das Hotel Adlon für zwanzig Millionen Goldmark erbaut hat, das Wilhelm II. selber mit dem Kaiserwalzer eingetanzt hat, und der erste Gast ist passenderweise ein amerikanischer Erfinder gewesen, Edison, der die Menschen mit seiner Glühbirne und dem künstlichen Licht verführt, während Engelhardt hier auf der Insel das echte und wahre Licht entdeckt hat, nach dem sich so viele sehnen. Er selber hatte immer wieder Zeit im Gefängnis verbracht. Mal, weil er barfuß gegangen war. Ein andermal, weil er auf der Straße gestanden und Lieder gesungen hatte. Wegen Landstreicherei, als er versucht hatte, Deutschland auf möglichst geradem Weg von Lindau nach Hamburg zu durchwandern. Weil er Flugblätter verteilt hatte gegen den Flottenbau. Von Kabakon zu hören habe ihm immer Mut gemacht, alleine zu wissen, dass es eine Möglichkeit gab, um allem zu entfliehen, wenn es endgültig unerträglich wird. Ob Engelhardt überhauptwisse, wie wichtig er und seine Insel für viele in Deutschland seien?
Engelhardt sah in der Ferne Anna und Walter über den Sand gehen, seine Hand auf ihrer Schulter. Es tat ihm weh, aber seine Aufgabe war größer, schon in zwei Tagen würden dreißig Menschen hier leben, sie brauchten Essen und ein klares Ziel, von Anfang an mussten sie wissen, worum es hier ging und dass Glück nur in der Beschränkung liegt.
Zwei Tage später standen sie am Strand und erwarteten die Ankunft des Postschiffs. Sie trugen Leinengewänder und Engelhardt sein Hüfttuch, um nicht den Unmut des Kapitäns zu erwecken. Anna hatte Willkommen auf eine Decke genäht und diese zwischen zwei Palmen gespannt. »Ihr seid die ersten Apostel des Sonnenordens«, hatte Engelhardt zu Walter und Wilhelm gesagt, die neben ihm standen, während Anna Papayas schälte.
»Was ihr in der Obstbaukolonie Eden versucht habt, konnte nicht funktionieren, denn das wahre Eden liegt nicht nördlich des Wendekreises des Krebses, sondern im Süden. Die Zeit der Tropen hat jetzt begonnen.«
Anna hatte die Papayaschalen weggeworfen und alle lange angesehen.
»Sonnenpolitik muss die Menschenpolitik ersetzen«, hatte Walter gesagt, Luft geholt und die Arme erhoben. »Wir werden von hier aus ein internationales tropisches Kolonialreich der Fruchtesser begründen. Wir legen um den ganzen Äquator ein Netz von reinem, nacktem fruktovorischem Leben, Kabakon ist nur ein Anfang gewesen, aber es geht nicht nur um uns, nicht um uns, sondern die ganze Menschheit, wir haben einen Auftrag, der über uns hinaus reicht.«
Nichts auf der Insel
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