Das Paradies
Panik erfaßt. Ibrahim hatte ein Kind seiner Mutter weggenommen …
»Mit allem Respekt, Mutter, Quettah hat mir gesagt, ich soll auf die Straße gehen und eine barmherzige Tat vollbringen. Das habe ich getan. Ich habe das Kind vor dem Elend und vor dem Verhungern gerettet.«
»Gott läßt sich nicht täuschen, Ibrahim! Du kannst IHN nicht überlisten! Du hast es nicht aus Barmherzigkeit getan, sondern aus eigennützigen Gründen! Du willst nicht der Vater von Töchtern sein, du willst der Vater von Zacharias sein. Aber damit hast du noch mehr Unheil auf unser Haus gebracht. Bitte, mein Sohn, das darfst du nicht tun. Gib das Kind seiner Mutter zurück.«
Er erwiderte: »Jetzt ist es bereits geschehen. Er ist mein Sohn.« Als sie die Hilflosigkeit in seinen Augen, die Angst und die Verwirrung sah, sagte sie: »So sei es denn,
inschallah.
Wie Gott will. Hör zu, das muß unser Geheimnis bleiben. Niemand darf erfahren, woher dieses Kind kommt, Ibrahim. Du darfst es keinem Menschen, keinem deiner Freunde und niemandem aus der Familie sagen. Dieses Geheimnis werden wir beide hüten, um die Familienehre zu retten.« Mit zitternder Stimme fügte sie hinzu: »Morgen werden wir deinen Sohn der Welt zeigen. Du wirst ihn in die Moschee bringen, und dann soll er beschnitten werden.«
Khadija war erschüttert. Sie setzte sich und seufzte. Nach einem langen Schweigen hob sie den Kopf und fragte: »Und was ist mit der Mutter? Wo ist sie?«
»Ich werde mich darum kümmern, daß sie gut versorgt wird.«
Aber Khadija schüttelte energisch den Kopf. Die Angst, die tiefsitzende Angst ihrer Seele meldete sich wieder. Sie wußte aus eigener Erfahrung, was es für ein Kind bedeutet, von der Mutter gerissen zu werden. »Nein«, sagte sie, »der Junge muß bei seiner Mutter sein. Wir dürfen sie nicht voneinander trennen. Bring sie herein. Ich werde ihr eine Stelle in unserem Haus geben. Dann kann sie das Kind stillen, und Zacharias wird nicht von seiner Mutter getrennt.«
Khadija stand auf, nahm den ausgehungerten Säugling in ihre Arme und flüsterte: »Ich werde dich als meinen Enkel aufziehen. Wenn der Himmel dich geschaffen hat, dann wird die Erde einen Platz für dich finden.«
Als sie dem Kind in die grünen Augen blickte, dachte sie an die neuen eigenartigen Träume, die noch nicht einmal die Quettah hatte deuten können. Vielleicht hatten die Träume, in denen sie sah, wie zwei unheimliche Männer sich die Hand reichten, zufrieden lachten und dann einem Trupp schwarzer Reiter das Zeichen zum Aufbruch gaben, die Ereignisse dieser Nacht vorausgesagt? Oder hatte sie wieder einen Blick in die Vergangenheit, in ihre eigene Vergangenheit werfen können? Die Gesichter der beiden Männer im Traum waren nur schwarze Konturen gewesen. Aber sie waren ihr irgendwie bekannt vorgekommen.
Khadija dachte an Nefissa. Marijam hatte ihr berichtet, wie Nefissa das Haus verlassen hatte. Sie wollte zur Prinzessin. Traf sie sich im Palast mit ihrem Liebhaber? Es war inzwischen schon spät, und ihre Tochter war noch immer nicht nach Hause zurückgekommen. Schweigend betete sie für ihre Tochter und bat Gott, sie zu beschützen. Dann sagte sie zu Ibrahim: »Höre mir gut zu, mein Sohn. Morgen wirst du in der Moschee Almosen für die Armen stiften. Du wirst beten und Gott für deine Tat um Vergebung bitten. Gott ist gnädig.«
Und ich werde darum beten, daß ER sich unserer Familie erbarmt, dachte sie.
5 . Kapitel
»Nanu, was ist denn los? Ist heute ein Feiertag, oder warum sind die Straßen so menschenleer?«
Der Taxifahrer warf durch den Rückspiegel einen Blick auf den Fahrgast, der am Hauptbahnhof in seinen Wagen gestiegen war. Der junge blonde Engländer reiste mit Tennis-, Golf- und Kricketschlägern. Der Fahrer wollte dem verrückten Engländer sagen, daß Kairo heute für seinesgleichen ein gefährlicher Ort war. Er wollte sagen: »Hast du nichts von dem Massaker gestern am Suezkanal gehört, bei dem eure Soldaten fünfzig Ägypter umgebracht haben? Weißt du nicht, daß für diese Greueltat überall in der Stadt Rache geschworen wird? Hast du nicht gehört, daß die Regierung alle Briten aufgefordert hat, die Häuser nicht zu verlassen?« Der Fahrer wollte hinzufügen: »Verstehst du jetzt, warum es für dich so schwierig war, ein Taxi zu finden, weil nur einer, der lebensmüde ist, heute einen Engländer fährt? Vergiß nicht, ich habe dich nur einsteigen lassen und versprochen, dich in die Paradies-Straße zu bringen, weil du mir ein
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