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Das Paradies

Das Paradies

Titel: Das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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rief sie. »Es gibt Limonade …«
    Amira bekam große Augen, als sie die Aprikosen sah – es waren ihre Lieblingsfrüchte. Deshalb nannte man sie »Mischmisch«, das arabische Wort für Aprikose. Aber noch ehe sie die Schale erreicht hatte, schob sie Omar zur Seite und nahm sich eine Handvoll. Khadija ließ es geschehen, denn es waren genug für alle da. Bald hielten die Kinder zufrieden die Limonadengläser in den kleinen Händen und kauten glücklich auf den süßen Aprikosen. Khadija spürte die warme Sonne auf der Schulter, atmete den Blumenduft und empfand plötzlich eine unbeschreibbare, stille Freude. Sie sah die Zukunft: In zehn oder fünfzehn Jahren würden diese Kinder heiraten, und dann gab es wieder Säuglinge im Haus. Sie dachte: Ich werde eine Urgroßmutter sein, aber ich bin dann nicht einmal sechzig! Sie lachte und war so glücklich, daß sie glaubte, fliegen zu können.
Gelobt sei Gott, der Herr der Welt, für seine Gnade und Barmherzigkeit. Möge es immer so sein …
    »Seht mich an!« rief Jasmina und zog getrockneten Papyrus wie eine Schleppe hinter sich her. »Ich bin ein Pfau!«
    Khadija erstarrte, denn sie sah plötzlich einen Pfau und nicht ihre Enkelin. Ein blau schimmernder Pfau schlug vor ihr sein majestätisches Rad. Khadija mußte sich schnell setzen und schlug die Hände vor das Gesicht. Es war eine Erinnerung. Als Mädchen im Alter von Jasmina hatte sie oft mit einem Pfau gespielt. Und dann hörte sie die Stimme ihres Geliebten. Er saß neben ihr vor dem plätschernden Brunnen und schenkte ihr ein Liebesgedicht. Er sang zu den Klängen einer Laute die Verse, die in ihrer Weisheit und Schönheit die Liebe zwischen Mann und Frau auf eine überirdische Weise verklärten. Das kleine Mädchen hörte die Worte, verstand sie aber nur mit ihrer reinen Seele, und sie wußte, daß sie diesen Mann in alle Ewigkeit lieben würde …
    Plötzlich schmerzte Khadija der Kopf. Heftige Stiche schienen ihren Schädel zu durchbohren. Sie wußte nie, wann die Erinnerungen sie überfielen, sei es als Träume oder auch am hellichten Tag. Wie eine hohe Flutwelle schlugen sie über ihr zusammen, zeigten ihr etwas aus der Vergangenheit. Wie eine faszinierende Momentaufnahme erlebte sie etwas, das wirklicher zu sein schien als die Welt, in der sie lebte. Und dann verschwanden die Bilder, und ihr klopfte wie rasend das Herz. Khadija stellte sich ihr Bewußtsein wie einen tiefen Brunnen vor. Luftblasen stiegen an die Oberfläche und platzten als Erinnerungen. Manchmal waren sie ihr bereits unbestimmt bekannt, wie zum Beispiel der Tag, an dem sie Ali Raschid im Harem in der Perlenbaum-Straße kennenlernte, aber meist waren es vergessene Fragmente, ein Gesicht, eine Stimme, plötzliche Angst oder Freude oder wie diesmal ein Pfau. Und sie wußte, das kleine Mädchen befand sich in einem Palast, aber mehr wußte sie nicht. Khadija zweifelte inzwischen nicht mehr daran, daß sie das kleine Mädchen war. Die Bilder, Träume und Gefühle waren Ereignisse aus ihrer Kindheit. Würde sie aus dem Mosaik vielleicht eines Tages den Schlüssel zu ihrer Vergangenheit finden?
    Es roch immer stärker nach Rauch. Was konnte das nur sein? Langsam richtete sie sich auf, blickte sich verwirrt um und warf einen Blick auf die Uhr. Marijam und Suleiman würden bald aus der Synagoge kommen, dann konnte sie die beiden fragen, ob in der Stadt etwas vorgefallen war.
    Aber dann wußte Khadija schlagartig, daß der Rauch von keinem normalen Feuer stammte. Sie stand auf und sagte: »Kommt Kinder! Es ist Zeit für euren Unterricht.«
    »Ach, Umma …«, bettelte Zacharias, »müssen wir wirklich schon wieder ins Haus?«
    »Du mußt lesen lernen«, sagte Khadija zu Zacharias und betrachtete seine Knie, die er sich bei dem Sturz aufgeschlagen hatte. »Dann kannst du den Koran lesen. Das Wort Gottes besitzt Kraft. Wenn du den Koran von Anfang bis Ende kennst, dann bist du für alles im Leben gewappnet. Niemand kann dir dann schaden oder dich verletzen, wenn du das Gesetz kennst.«
    Alice lachte. Sie nahm die Gartengeräte unter den Arm und sagte: »Aber sie sind doch noch Kinder, Mutter Khadija.«
    Khadija verbarg ihre wachsende Sorge hinter einem Lächeln – der Rauch wurde immer stärker. Sie hörte Lärm auf der Straße. »Kommt, schnell an die Arbeit. Wenn ihr heute eure Übungen macht, dann gibt es morgen an Großvaters Grab ein Picknick.«
    Dieses Versprechen ließ sie jubelnd ins Haus eilen, denn ein Ausflug zu dem Grab war immer

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