Das Prometheus Mosaik - Thriller
im Gegenzug Paul, war ihr erst jetzt richtig bewusst geworden, da er sie in sein Leben schauen ließ.
Wobei es nicht viel zu schauen gab; nicht viel jedenfalls, das offen dalag … Nach dem Tod seiner leiblichen Eltern, in einer Zeit, in die seine Erinnerung kaum zurückreichte, war er in die Obhut von Adoptiveltern gelangt. Und auch die waren ums Leben gekommen. Weil es keine weitere Familie gab, hatte für Paul danach eine Odyssee durch Heime und Internate begonnen – ein Leben, mit dem er nicht haderte, auch weil er kein anderes kannte.
»Ich möchte nicht kaltherzig klingen, aber ich glaube, es war so am besten für mich. Es machte mir nichts aus, allein zu sein, ohne Eltern. Ich hatte sogar das Gefühl, ich müsse allein sein. Es war eben so. Das schien mein Schicksal zu sein, und eines der Dinge, die ich schon früh begriff, war, dass man sein Schicksal akzeptieren muss, wenn man nicht daran zerbrechen will: Das sind die Karten, die dir das Universum gegeben hat – mach was draus, oder lass es sein.«
»Hast du für dich das Beste daraus gemacht?«, wollte sie von ihm erfahren.
Er schien kurz überlegen zu müssen. »Im Rahmen meiner Möglichkeiten ja, ich glaube schon. Auch wenn ich lieber Krankenpfleger war als … Briefkastenonkel.«
Er grinste ihr zu, nicht so traurig, wie sie es erwartet hatte. Sie grinste zurück. Er hatte ihr schon erzählt, dass er seinen ursprünglichen Job als Krankenpfleger hatte aufgeben müssen, weil ihn diese Arbeit im wahrsten Sinn des Wortes zu sehr mitgenommen hatte. Es war ihm unerträglich geworden, hinter jede noch so tapfere Maske und auf das tiefe Leid darunter blicken zu müssen. Dafür gehörte er heute zu einem Team von Seelsorgern, die sich der Probleme ihrer »Patienten« nur schriftlich annahmen und diese in Zeitschriften- und Zeitungskolumnen »behandelten«.
»Papier leitet und leidet nicht«, hatte Paul ihr erklärt, und das immerhin hatte Sara verstanden. Wenn sie das Wortspiel auch nicht so originell fand wie Paul selbst – als er es angebracht hatte, war das eines der wenigen Male gewesen, da sie ihn richtig grinsen gesehen hatte.
Alles in allem war sein Leben bisher kein spektakuläres gewesen, wenn auch ein ungewöhnliches. Wirklich interessant wurde es jetzt, da der merkwürdige Anruf einer »Toten« und die Verabredung mit ihr Licht auf Dinge warfen, die bisher angeblich die Wahrheit gewesen waren – und hinter denen sich, wie sich auf einmal zu zeigen begann, womöglich doch noch etwas anderes verbergen mochte.
Sara fühlte sich ganz in ihrem Metier; es war die Aussicht auf solche Rätsel und die Chance, sie zu knacken, die sie in diesen Beruf gelockt hatten. In der Realität boten sich solche Fälle viel zu selten; in der Regel ging es bei ihren Aufträgen tatsächlich vor allem um untreue Ehemänner und -frauen und Versicherungsbetrug. Davon konnte Sara leben, aber nicht zehren. Umso begieriger stürzte sie sich auf die wahren Leckerbissen. Pauls Geschichte mochte sich als solcher erweisen – auch wenn sie einige Haken hatte. Paul war nicht irgendjemand, sie hatten nicht mehr nur beruflich miteinander zu tun.
Der Stoff, aus dem das Chaos ist …
Trotzdem, Saras Neugier überwog, wie immer eigentlich, alle Bedenken und Vorbehalte. Auch wenn sie dafür im Regen stehen musste …
Immerhin, es war nur Nieselregen, und der Sockel der Ampel war nicht nass, sodass sie sich hinsetzen konnten.
»Um halb eins wollte sie hier sein«, sagte Paul. Er sah auf seine Uhr. »Noch zwei Minuten.«
»So exakt lässt sich das bei all dem Verkehr nicht timen«, erwiderte Sara. »Das wüsstest du auch, wenn du öfter mal rauskämst.«
»Ein weiterer Grund, genau das nicht zu tun.«
Der stete Menschenstrom, der aus dem Bahnhof Potsdamer Platz floss, verstärkte sich gerade wieder. Sara wies mit dem Kopf in Richtung der Menge, die tatsächlich ein wenig den Eindruck eines Flusses erweckte, der ein paar hundert Menschen mit sich riss, von denen nur die Köpfe zu sehen waren. »Vielleicht ist sie unter diesen Leuten.«
War sie nicht.
»Herr Finn …?« Und zögerlicher: »Paul?«
Wie vom selben Faden gezogen, drehten Sara und Paul den Kopf in die andere Richtung, aus der sich ihnen eine Frau genähert hatte. Sie kam noch ein paar Schritte auf sie zu und blieb dann stehen wie vor einer unsichtbaren Grenzlinie. Mit schiefgelegtem Kopf sah sie Paul an. Sara nutzte die Gelegenheit, ihrerseits die Frau einer genauen Betrachtung zu unterziehen.
Sie sah gut aus,
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