Das Rätsel Sigma
auserwählt, dir nicht von der Seite zu weichen. Anweisung vom Direktor. Solange du diese Gegend unsicher machst, bin ich dir zugeteilt…“
„Ich denke, du hast Urlaub.“
„Dachte ich auch. Doch mit des Geschickes Mächten…“
Herbert lachte. „Zur Abwechslung mal Schiller. Wie haben sie dich erreicht?“
„Ich habe selbstverständlich angegeben, daß ich meinen Urlaub bei dir verbringe!“
„Und“, fragte Herbert scheinheilig, „warst du bei mir?“
„Na hör mal, für wen hältst du mich denn!“ antwortete Leif mit gespielter Entrüstung. Er pfiff ein paar Takte eines Schlagers und fügte dann hinzu: „Außerdem wohnt das Mädchen bei der Mutter, und ich wohne bei der Schwester – was soll da sein?“ Nach kurzem Überlegen fuhr er fort, diesmal in ernstem Ton: „Und drittens glaube ich, die ist die Richtige, da laß ich mir Zeit.“
„So genau wollte ich es gar nicht wissen“, sagte Herbert abwehrend. „Also, wenn ich dich richtig verstehe, soll ich von jetzt ab mit dir verhandeln?“
„Falsch verstanden“, meinte Leif. „Ich soll dir helfen. Dir selbst stehen alle Wege offen. Ich schlage vor, wir nehmen jetzt mal den Weg zum Frühstücksraum. Wir essen etwas, und du erklärst mir, warum ich eigentlich meinen Urlaub abbrechen mußte!“
Herbert berichtete unterwegs in kurzen Worten, was geschehen war, aber beim Frühstück blieb er schweigsam. Er wußte nicht weiter. Er hatte zwar in den Jahren seiner Tätigkeit bei der Bezirksinspektion für Umweltschutz das eine oder andere Mal operativ gearbeitet, als Inspektor im Außendienst, schon um die Probleme sozusagen in natura kennenzulernen, mit denen er sich dann im mathematischen Büro herumschlug. Aber er hatte an dieser Form der Tätigkeit nie Geschmack gefunden. Insgeheim beneidete er die Leute ein bißchen, die es verstanden, heute hier und morgen dort verbohrte Werkleiter und nachlässige Umweltschutzbevollmächtigte beim Schlips zu nehmen und in die Enge zu treiben, noch beim Gespräch blitzschnell die Schwächen in der Position des anderen zu erkennen und einzuhaken. Seine Sache war das nicht. Mit seinem ans Knobeln gewöhnten Verstand neigte er eher dazu, für sich allein alle Möglichkeiten auszuprobieren, und es fiel ihm gefühlsmäßig schwer, von anderen etwas Ungutes zu denken, geschweige denn es auszusprechen. Nein, es würde zu nichts führen, wenn er hier so vorging, wie das die Inspektoren in der Regel taten. Das ging ja auch schon deshalb nicht, weil die ganz genau wußten, wonach sie suchten. Er dagegen konnte das noch nicht einmal ahnen. Die erste Richtung, die er eingeschlagen hatte, eben die Richtung Kernkraftwerk, hatte sich als falsch erwiesen. Wenigstens teilweise; die Virus-Variante des Chefarztes fiel ihm ein. Er brauchte Tatsachen, Dinge, die nachgewiesen werden konnten. Gab es eine Verbindung zwischen den Erkrankten des Kernkraftwerkes und den anderen? Gab es überhaupt Zusammenhänge zwischen den dreien aus dem Kernkraftwerk? Das konnte man doch untersuchen, das mußte sich doch feststellen lassen.
Leif hatte den Schwager die ganze Zeit über beobachtet und ihm die mühsamen Gedanken fast vom Gesicht ablesen können. Er sah auch, daß Herbert zu einem gewissen Abschluß gekommen war, und brachte deshalb jetzt einen Vorschlag an, den er lange hin und her gewälzt hatte. „Wir könnten zum Beispiel nach diesem Virus forschen“, sagte er. „Die Mittel dazu haben wir!“
Aber Herbert war jetzt nicht von dem Plan abzubringen, der nach all dem Grübeln blitzschnell Form angenommen hatte und ihn nun wie der plötzlich sichtbar gewordene Lösungsweg einer mathematischen Aufgabe elektrisierte. „Wir machen jetzt folgendes…“, begann er zu erläutern.
Leif legte mit einem Seufzer der Erleichterung den Schreibstift aus der Hand. Die ungewohnte Tätigkeit hatte ihn angestrengt. Dabei hatte er nur schweigend danebengesessen und ein Zeitprotokoll angefertigt, während Herbert… Also, daß sein etwas phlegmatischer Schwager zu so etwas imstande war, hätte er nie geglaubt. Anderthalb Stunden Befragung lagen hinter ihnen. Zwanzig Personen, junge und alte, männliche, weibliche, verständnisvolle, schnippische und schüchterne – und immer dieselben Fragen. Bitte nehmen Sie Platz. Sie arbeiten mit Heide Jendrich zusammen. (Oder Erwin Kottner oder Sonja Edderstedt, je nachdem.) Bitte sagen Sie uns, was die Kollegin am Freitag, Sonnabend und Sonntag getan hat, möglichst genau. Beginnen wir mit Freitag. Ja,
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