Das Rätsel Sigma
unschädlich, für Mensch und Tier, das ist nachgewiesen, es kann von seiner Zusammensetzung her gar nicht schädlich wirken, und wenn Sie mir und den Gutachten der Wissenschaftler nicht glauben wollen, dann – bitte – hier ist ein Glas Milch, und hier“ – er holte ein Flaschen aus seiner Tasche und schüttete den Inhalt in die Milch – „hier ist Lactapur, und ich werde es Ihnen beweisen.“
Er wollte das Glas an den Mund setzen, aber Fred Hoffmeister, der ihm gegenübersaß, war schneller: Er beugte sich über den Tisch und schlug ihm das Glas aus der Hand, es splitterte auf dem Tisch, die Milch spritzte, die zunächst Sitzenden sprangen auf.
Einen Augenblick lang herrschte betretenes Schweigen. Dann klopfte die Direktorin, als sei nichts geschehen, an ihr Glas und sagte, zu Fred gewandt: „Ich danke Ihnen für die schnelle Reaktion. Und nun“, fuhr sie fort, „können wir wohl vernünftig über die Frage diskutieren.“
Als Herbert Lehmann und Fred Hoffmeister eine Stunde später in Erfurt den Turbo-Expreß bestiegen, der mit seinen Gleitkufen und Stabilisierungsflächen mehr einem Luftschiff ähnelte als einem Zug, nahmen sie eine Enttäuschung und eine Zusage mit. Eine Enttäuschung, weil nach allem das Reinigungsmittel wohl kaum etwas mit der Vergiftung zu tun hatte, und eine Zusage, weil sich der aufgeregte Kollege plötzlich als vernünftig und hilfsbereit erwies, sobald es sich um Sachfragen aus seinem eigentlichen Arbeitsgebiet handelte. Er hatte versprochen, sich mit Oranienburg und Leuna in Verbindung zu setzen und dafür zu sorgen, daß alle noch bestehenden Zweifel ausgeräumt wurden.
Im Zug schaltete sich die Beleuchtung ein. Draußen war es dunkel geworden, obwohl es noch früher Nachmittag war. Fast geräuschlos und erschütterungsfrei glitt der Expreß dahin, nur an den Wipfeln der Bäume draußen war zu sehen, daß der Sturm begonnen hatte.
„Jetzt bleibt also nur noch das Futtermittelwerk“, sagte Fred Hoffmeister.
„Ja, oder wir haben wieder einen halben Tag verloren.“ Herbert seufzte. Ihm fiel ein, daß ihm nun die Begegnung mit Onkel Richard bevorstand. Aber wennschon – Hauptsache, sie fanden dort die Quelle der Vergiftung. Und was man dem skurrilen Biochemiker sonst auch nachsagen konnte – ein solcher Typ wie der Lactapurmann war er jedenfalls nicht.
Monika Baatz, durch einen Anruf alarmiert, stürzte in den Krankensaal. Ingenieur Andropow und seine Assistenten umstanden das Bett von Heide Jendrich. Einige hielten die Arme und Beine fest. Noch lag die Schlafende ruhig da, äußerlich war nichts Besonderes zu sehen, außer daß es durch die halb geöffneten Lippen schwarz schimmerte – man hatte ihr einen Gummischutz über die Zähne gelegt, damit sie sich bei einem Anfall nicht die Zunge zerbiß.
Jetzt aber – der Körper bäumte sich auf, einmal, zweimal, dreimal, die Assistenten hatten Mühe, ihn festzuhalten, ein schreckliches gurgelndes Geräusch drang aus der Kehle der Kranken, Schaum stand auf ihren Lippen. Dann fiel der Körper schlaff zusammen.
„Weiter festhalten!“ mahnte der Ingenieur. Aber der Anfall war offensichtlich vorbei, auch das EEG normalisierte sich wieder.
„Leicht, zum Glück!“ sagte Dr. Baatz.
„Schlimm“, widersprach der Ingenieur. „Knapp sechs Stunden nach dem ersten, noch leichteren Anfall.“ Dr. Baatz nickte. „Und die anderen?“
„Noch nichts“, sagte der Ingenieur. Dann korrigierte er sich. „Nichts, was unsere Geräte anzeigen. Ich glaube, wir sollten die Körperfunktionen möglichst umfassend überwachen.“
„Grundumsatz, Temperatur, Blutzusammensetzung“, sagte Dr. Baatz.
„Kot, Urin, Speichel“, ergänzte der Ingenieur.
„Ich veranlasse das.“
„Aber erst kommen Sie mal mit, ich habe eine interessante Nachricht erhalten. Einer meiner Mitarbeiter hat zu Haus an meinem Institut ein Versuchstier operativ in unerweckbaren Schlaf versetzt. Ich zeige Ihnen gleich das EEG des Hundes.“
Im Zimmer des Ingenieurs betrachtete Dr. Baatz die Kurve. „Wenn ich das richtig sehe“, sagte sie langsam, „dann ist das – ausschließlich orthodoxer Schlaf.“
„Ja“, antwortete der Ingenieur lebhaft, „und nun will ich Ihnen eine wichtige Frage stellen. Nehmen wir mal an, der Schluß, zu dem Sie schon gestern gekommen sind, wäre richtig, daß die Vergiftung die entsprechenden Zentren im retikulären System nicht zerstört hat – wie wirkt dann das Gift? Warum wird es nicht nach und nach abgebaut? Warum
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