Das Rattenloch
die Hälfte der Strecke hinter sich gelassen, und wir sahen sie jetzt besser. Sie lief sehr leichtfüßig. Sie lächelte sogar. Umgeben von ihren Freunden musste sie sich wahnsinnig sicher fühlen.
»Was wird gleich geschehen?«, fragte ich leise.
»Keine Ahnung, John.«
»Aber sie ist deine Schwester.«
»Hör auf damit. Ich habe sie lange nicht gesehen. Unser Kontakt brach zwar nie ab, aber es gab lange Phasen dazwischen, wo wir uns überhaupt nicht zu sehen bekamen. Ich habe sie nur einmal vor ihren Verfolgern in meiner Praxis versteckt. Doch das liegt schon mehr als ein Jahr zurück. Damals hat sie einem Tierhändler das Dach über dem Kopf angezündet.«
»Zur Polizei bist du nie gegangen...«
»Nein. Es ist meine Schwester. Irgendwo gebe ich ihr auch Recht, nur differenziere ich mehr. Das ist der große Unterschied zwischen uns beiden.
»Ja, ich versteh jetzt.«
Unser Gespräch wurde unterbrochen, weil Florence den Wagen erreicht hatte. Sie hielt sich noch vor der Kühlerhaube auf und musste sich jetzt entscheiden, zu welcher Seite sie gehen wollte.
Sie tat noch nichts. Flach hatte sie ihre Handflächen auf die Kühlerhaube gelegt. Starr schaute sie nach vorn und natürlich durch die Scheibe, um uns beobachten zu können.
Wir saßen stumm da und taten nichts. Noch immer verschwamm Florence’s Gesicht, sodass ich vergeblich nach Ähnlichkeiten zwischen ihr und Maxine suchte.
Die Haarfarbe war dunkler. Vielleicht auch die Augen. So genau sah ich es nicht.
Es waren bestimmt nur Sekunden, die sie reglos stand. Mir kam die Zeit länger vor, und Florence gab sich schließlich einen Ruck. Zusammen mit den Ratten setzte sie sich in Bewegung. Und sie hatte sich nicht die Fahrerseite ausgesucht, sondern ging dorthin, wo ihre Schwester saß.
Ich beobachtete alles sehr genau. Auch wenn wir nicht unmittelbar von irgendwelchen Ratten bedroht wurden, bildeten sie weiterhin eine große Gefahr und ließen ihre Freundin, Herrin oder Königin keinesfalls aus den Augen.
Vor der Tür blieb Florence stehen. Sie gab ihrer Schwester kein Zeichen, sondern öffnete die Tür selbst.
Augenblicklich fuhr ein kalter Luftstrom in den Range Rover. Die Nackte war mir jetzt so nah wie nie, aber sie hatte für mich nicht den geringsten Blick. Sie kümmerte sich einzig und allein um ihre Schwester, die sie anschaute und anlächelte.
»Hallo, Max.«
»Hi, Flo.«
»Warum bist du gekommen, Max?«
»Mein Gott, warum? Weil ich es musste. Weil ich etwas ahnte. Weil ich aus meiner Ahnung eine Gewissheit machen wollte. Und weil ich mich noch immer für dich verantwortlich fühle. So war es schon damals, als wir noch Kinder waren.«
»Nur weil ich zwei Jahre jünger bin als du?«
»So ist es.«
»Nein, Max, ich bin meinen eigenen Weg gegangen, und ich werde ihn weiterhin gehen. Das alles habe ich dir schon gesagt. Ich habe dir auch vorgeschlagen, an meiner Seite zu bleiben, aber du hast dich anders entschieden. Wir waren mal gleich. Wir hatten mal die gleichen Ideale und Träume. Himmel, was hätte aus uns beiden noch werden können. Wir hätten die Welt aus den Angeln gehoben, und niemand hätte uns daran hindern können. Wir beide waren so unendlich stark. Manchmal war ich stolz auf dich, aber das ist vorbei.«
Maxine schüttelte den Kopf. »Ich konnte deinen Weg nicht gehen, Flo. Es war nicht möglich. Es ist nicht meine Welt gewesen, das musst du begreifen. Ich fühle mich den Tieren immer noch verbunden, aber nicht so extrem wie du.«
»Ich bin nicht extrem.«
»Das sehe ich anders.«
»Ich gebe den Menschen nur das zurück, was sie den Tieren angetan haben.«
»Deshalb auch die vier Toten. Was haben sie den Tieren angetan? Was? Sag es?«
»Es waren Menschen.«
»Aha, ich verstehe. Menschen. Und nur deshalb mussten sie sterben, weil sie das Pech hatten, Menschen zu sein. Nein, dieser Logik kann ich nicht folgen.«
»Auch Tiere müssen sterben, nur weil sie Tiere sind. Es war nicht mehr als die ausgleichende Gerechtigkeit. Die Ratten haben es so gesehen. Sie haben gelernt, die Menschen zu hassen, und sie machen dabei keine Unterschiede.«
»Aber du hättest sie davon abhalten können, Florence. Du hast es nicht getan...«
»Ich wollte es nicht. Ich wollte den Ratten zeigen, welche Macht sie letztendlich besitzen. Alles wäre ganz andere gelaufen, hätten uns die Menschen nur in Ruhe gelassen. So aber haben sie sich selbst zuzuschreiben, was geschehen ist. Und deshalb kann ich auch kein Mitleid haben.«
»Was ist mit
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