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Das sag ich dir

Das sag ich dir

Titel: Das sag ich dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanif Kureishi
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dass du seinen Eltern so sehr ähnelst«, erwiderte ich. »Aber du hast ein Recht auf deine Privatsphäre. Genau wie sie auch. Hast du in der Zeitung den Artikel deines Vaters gelesen?« Sie hätte fast genickt. »Was hältst du davon?«
    Am letzten Wochenende hatte Henry einen offenen Brief an Blair geschrieben, um seinen Austritt aus der Partei zu verkünden, der er Mitte der sechziger Jahre beigetreten war, die laut seinen Worten inzwischen jedoch diktatorisch und korrupt sei und die Meinung der Öffentlichkeit nicht mehr widerspiegele. Von all den dreisten Lügen abgesehen, habe es keine ausreichende Debatte über den Irak gegeben, und abweichende Meinungen würden nicht geduldet, geschweige denn gefördert werden. Inzwischen werde die Partei für das Fernsehen geführt und nicht mehr, um Wohlstand und Macht umzuverteilen. Was außer dem Mindestlohn und der Aufhebung der Sperrstunde für Pubs habe Blair denn schon erreicht? Laut Henry hatte sich die Labour Party wie andere Organisationen auch in Richtung eines Kults entwickelt, der nicht nur bedingungslose Treue verlange, sondern auch die innere Freiheit raube.
    Henry hatte mich besucht, um den Brief mit mir zu besprechen. Es war ein äußerst polemischer und in großer Wut geschriebener Text, dem der Herausgeber einer liberalen Sonntagszeitung, ein Freund Valeries, eine halbe Seite eingeräumt hatte. Henry war überrascht, dass so viele Freunde und Kollegen bei ihm anriefen, um ihm zu sagen, wie sehr sie ihn für seinen Mut und seine Worte bewunderten.
    Nach dem Erscheinen des Briefes wurde er um einen Auftritt bei Newsnight gebeten. Er sprach im Radio und schrieb der Zeitung noch einmal. Er hatte jede Menge zu sagen und stellte fest, dass man ihn für intelligent und wortgewandt hielt. Er hatte zwar gelehrt, in der Öffentlichkeit aber nie viel über Politik, ja nicht einmal über das Theater geredet, weil er befürchtet hatte, außer Fassung zu geraten und etwas Beleidigendes oder Verrücktes zu sagen. Ich sagte ihm, dass man ihn achte, weil er weder ein Vielschreiber noch ein Stuss redender Politiker sei. Ich sprach das Wort nur ungern aus, weil es durch Prahlerei und Verachtung inzwischen so stark an Wert verloren hatte, aber Henry war ein Intellektueller, und er tat das, was man von einem solchen erwartete.
    »Dein Vater wird von vielen Leuten bewundert«, sagte ich zu Lisa. »Wir sind im Krieg, und er rebelliert durch seine Worte dagegen.«
    »Ja, toll, er verkündet allen, gegen den Krieg zu sein. Echt mutig. Er verlässt eine Partei, der er nie hätte beitreten dürfen.« Sie sprach sehr schnell. »Warum unterstützt er nicht die Aufständischen im Irak und die Bombenattentäter und Widerständler überall auf der Welt? Warum erkennt er nicht an, dass dieser Kampf nun auch britischen Boden erreicht hat? Alle sagen - sogar die Regierung -, dass man es uns bald heimzahlen werde, und zwar hier in London. Blair hat es sich selbst zuzuschreiben, dass ihm und uns Vergeltung droht. Sogar einer eurer Politiker, Robin Cook, hat gesagt, wir seien besser beraten, Palästina den Frieden zu bringen, als den Krieg nach Irak zu tragen.
    Warum schreibt Dad nicht, dass wir durch Korruption und Materialismus so dekadent geworden sind, dass wir uns all das, was jetzt über uns hereinbricht, verdientermaßen selbst eingebrockt haben?« Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie die Wut aus ihren Gedanken vertreiben. Schließlich sagte sie: »Was ich zu sagen habe, kotzt mich an. Erzähl mir lieber, was du gerade so machst.«
    »Ich habe seit Monaten geschrieben«, sagte ich. »Über ein Mädchen. Aber es hat zu nichts geführt.« Sie nickte. »Dann habe ich ein Thema gefunden. Es hat sich einfach so herauskristallisiert. Oder war die ganze Zeit schon da. Und zwar die Schuld.«
    »Ja?«
    »Unsere Vorstellung davon. Und wie sie funktioniert. Was sie anrichtet. Die Griechen. Dostojewski. Freud. Nietzsche. Kein Fest ohne Grausamkeiten, schreibt Nietzsche. Schuld und Verantwortung. Das Gewissen. Alles wichtige Dinge.«
    »Warum ein solches Thema? Denkst du viel über so etwas nach?«
    »Ja, durchaus. Es ist schwierig, dem zu entkommen. Unter anderem hatte ich einen Streit mit meinem Sohn.«
    Ich erzählte ihr davon. Am letzten Sonntag war Rafi etwas unwillig gekommen, um den Tag mit mir zu verbringen. Ich lag auf dem Sofa und las die Zeitung; wir hörten Musik; Rafi saß zu meinen Füßen auf dem Boden. Er hatte dort mürrisch gesessen und mit einer seiner blinkenden Maschinen

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