Das Schattenkind
"In spätestens zwanzig Minuten erwarte ich Sie in meinem Boudoir, Miß Newman."
"Da war wirklich ein Schwarzer Mann, Onkel Jonathan", murmelte David schläfrig. "Warum..." Ihm fielen die Augen zu.
Jonathan Thorburn richtete sich auf. "Was ist passiert, Miß N e wman?" fragte er und sah sie eindringlich an. "Was..." Er unterbrach sich. "Gehen Sie sich erst einmal umziehen, sonst holen Sie sich noch den Tod. Warum haben Sie es nicht längst getan?"
"Weil ich mir Sorgen um Ihren Neffen machte, Mister Thorburn." Laura gelang es kaum, ihren Ärger zu bezwingen. "Jemand wollte ihn ermorden", fügte sie sehr leise hinzu. "Mir ist es nur mit knapper Mühe gelungen, den Kerl in die Flucht zu schlagen."
Jonathan umfaßte grob ihre Schultern. "Was sagen Sie da?"
"Sie tun mir weh." Sie versuchte, seine Hände abzustre i fen.
"Tut mir leid." Der Verwalter ließ die Hände sinken. Nachdenklich blickte er auf seinen Neffen. "Ziehen Sie sich erst einmal etwas Tro c kenes an", forderte er die junge Frau noch einmal auf. "Ich werde dafür sorgen, daß eines der Mädchen bei David bleibt, damit ich Sie zu me i ner Schwägerin begleiten kann."
Laura suchte ihr Zimmer auf. Noch immer fror sie entsetzlich. O b wohl sie nur ein paar Minuten Zeit hatte, trat sie rasch unter die heiße Dusche. Eilig trocknete sie sich dann ab und zog sich an. Am liebsten hätte sie sich hingelegt, doch daran war jetzt noch nicht zu denken. Sie ahnte, daß ihr einige schlimme Minuten bevorstanden und war froh, daß Jonathan Thorburn sie begleiten wollte.
Lady Ireen wartete bereits ungeduldig, als ihr Schwager und Laura das Boudoir betraten. Edwina stand mit einem kaum verborgenen, hämischen Grinsen hinter dem Se s sel ihrer Herrin.
"Setz dich, Jonathan." Lady Ireen wies mit einer großartigen Geste auf den Sessel, der neben ihrem stand. Nicht einen Augenblick dachte sie daran, auch Laura Platz anzubieten.
"Danke, ich stehe liebe", bemerkte Jonathan. "Bitte, lassen Sie uns alleine, Edwina", forderte er die Zofe auf.
Edwina warf ihrer Herrin einen empörten Blick zu.
"Gehen Sie nur", sagte Lady Ireen. Sie wandte sich Laura zu. "Würden Sie mir jetzt bitte erklären, wie es zu diesem Vorfall kommen konnte, Miß Newman. Allerdings bitte ich mir aus, daß Sie mir dieses Mal keine Lüge n geschichte auftischen."
Laura zwang sich, ruhig zu bleiben. "Ich habe Sie nicht belogen, Lady Thorburn", erwiderte sie, ohne dem Blick dieser Frau auszuwe i chen. Wohl zum fünften Mal erzählte sie, wie ein Taucher das Boot zum Kentern gebracht hatte. "Er trug ein Atemgerät und schwamm mit David davon. Ich bin mir sicher, daß er ihn ermorden wollte."
"Und Sie sind felsenfest davon überzeugt, daß Sie sich in Ihrer Angst diesen Taucher nicht nur eingebildet haben, Miß Newman?" fragte Jonathan mit hochgezogenen Auge n brauen.
"Ja, das bin ich", bestätigte die junge Frau. Sie fragte sich, wo er gewesen war, während sie mit dem Mann um Davids Leben gekämpft hatte. Jonathan hatte von dem geplanten Bootsausflug gewußt. Er hatte ja sogar dafür gesorgt, daß ihnen ein Boot bereitgestanden hatte.
"Hör dir das an, Jonathan." Lady Ireen atmete mehrmals tief durch. "Wer sollte denn David nach dem Leben trachten? Sie wollen doch nur Ihre eigene Haut retten, Miß Newman. Wer hat Sie überhaupt gehe i ßen, mit meinem Sohn in ein Ruderboot zu steigen? Wissen Sie nicht, wie unendlich kostbar dieses Kind für mich ist?"
Kostbar, weil Ihre Stellung davon abhängt, Lady Thorburn, dachte Laura, sprach diese Gedanken jedoch nicht aus. Sie durfte es nicht riskieren, von Davids angeblicher Mutter vor die Tür gesetzt zu we r den.
"Ich wußte von dem Ausflug, Ireen", warf Jonathan ein. "Da Miß Newman rudern kann, war wohl kaum etwas dagegen ei n zuwenden."
"Wie gut sie rudern kann, hast du ja gesehen", bemerkte seine Schwägerin erregt.
Eine kleine Hand schob sich in Lauras. Sie spürte, wie sie ruhiger wurde. Sie war nicht alleine. Manuel stand ihr bei.
"Ich habe mir diese Geschichte keineswegs ausgedacht, Lady Thorburn", sagte sie. "Sie ist viel zu schrecklich, als daß ich sie mir hätte ausdenken können. Jemand trachtet Ihrem Sohn nach dem L e ben."
"Beschreiben Sie mir den Mann", forderte der Ve r walter.
"Leider gibt es da nicht viel zu beschreiben", antwortete die junge Frau. "Es handelte sich um einen Taucher in einem schwarzen Anzug. Um den Kopf trug er eine ebenfalls schwarze Gummikappe. Der größte Teil seines Gesichtes wurde von der Maske
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