Das Schiff - Roman
haben sie einen Bogen geschlagen. Bestimmt waren sie verblüfft, als er sie angriff, ehe sie mich schnappen konnten. Tsinoy hat sich wirklich wacker geschlagen.«
»Trotzdem haben sie’s geschafft, mich zu verletzen«, wirft Tsinoy ein und zeigt uns eine schwarze, verbrannt wirkende Stelle unter seinen Wirbeln, unmittelbar hinter
dem flexiblen Schultergelenk. »Die haben Gift eingesetzt. «
»Warum will uns jeder hier umbringen?«, fragt Nell unvermittelt. »Wieso sind wir überhaupt hier, wenn das Schiff uns nicht an Bord haben will?«
Auch ich habe darüber nachgedacht, aber keine plausible Antwort darauf gefunden. Als ich Blicke mit meinem Zwilling – San … wie lautet die Endsilbe nochmal? – austausche, fasst er das als Aufforderung auf und erklärt: »Bei der Reiseleitung ist irgendetwas völlig schiefgelaufen. Und zwar an dem Ort, an den wir unserer Programmierung nach niemals denken sollen. Dessen Bewohner haben fast alles unter Kontrolle gebracht und dem Schiff etwas überaus Schlimmes angetan.«
»Schön und gut«, erwidert Nell, »das räume ich als Möglichkeit ein. Aber woher stammen diese Monster ? Wieso haben wir keinerlei Erinnerung an sie?«
»Anwesende sind hoffentlich vom Ausdruck Monster ausgeschlossen«, mischt Tsinoy sich ein und sieht dabei erst mich und danach meinen Zwilling an. »Irgendetwas unterscheidet mich von diesen Monstern, ich bin anders programmiert. Wieso? Wozu bin ich da?«
»Ursprünglich hat man dich dazu geschaffen, auf dem Zielplaneten aufzuräumen und Unliebsames aus dem Weg zu schaffen«, erklärt mein anderes Ich. »Aber ganz bestimmt war nicht vorgesehen, dass du eine menschliche Persönlichkeit entwickelst. Du bist ja nur ein Werkzeug, du bist …« Er zögert, das Wort auszusprechen.
» Entbehrlich und jederzeit ersetzbar«, ergänzt Tsinoy. »Aber was ist mit euch beiden? Wieso wisst ihr so gut über mich Bescheid?«
Es geht also alles wieder von vorne los. Dabei dachte ich, wir hätten uns den anderen, soweit überhaupt möglich, offenbart, aber jetzt bin ich mir nicht mehr sicher. Zwangsläufig verdüstert sich unsere Stimmung bei diesem Gespräch – ungeachtet unserer gefüllten Bäuche und der sauberen Körper. Außerdem unterbricht es unsere Gutenachtgeschichten. Niemand hat Lust, hier und jetzt solchen Fragen nachzugehen.
Nell lehnt sich zurück. »Wir müssen das miteinander besprechen, so viel ist klar. Aber wir müssen uns auch ausruhen. Meine Damen?« Sie sieht die Mädchen an. »Ihr habt hier doch das Sagen, stimmt’s? Zusammen mit den Lehrern?«
»Schlaft jetzt«, sagen die Mädchen. »Wir vertagen es.«
»Licht dimmen«, befiehlt mein Zwilling. » Schlafmodus oder wie man das nennt.«
Und das Schiff gehorcht. Das Licht in unserem »Zelt« wird schwächer, bis es nur noch schwach golden schimmert.
»Wie heiße ich doch gleich wieder?«, frage ich mein anderes Ich, als wir uns nebeneinander hinlegen, ohne uns zu berühren. Ich weiß nicht mal, ob ich meinen Bruder mag.
»Sanjay«, erwidert er.
»Und du heißt … Sanjim.«
»Stimmt.«
Ich schließe die Augen. Mir ist gar nicht klar, wie müde ich in Wirklichkeit bin, und als Nell mich irgendwann anstupst und Sanjim und mich damit aus dem Schlaf reißt, kommt es mir so vor, als wären nur Sekunden vergangen. »Geräusche von achtern«, flüstert sie. »Schleifgeräusche.«
Wir alle hören es jetzt: tiefe, laute, brutale Geräusche, die mir durch Mark und Bein gehen. Der Boden vibriert, und jetzt spüren wir auch einen Ruck und eine Verminderung der Rotation. Während das Schiff die Drehbewegung drosselt, geraten wir ins Rutschen. Da keine Halteseile und Haltestangen in der Nähe sind, pressen wir uns flach gegen den glatten Boden und versuchen, uns daran festzukrallen oder ein Bettgestell zu fassen zu kriegen. Derweil stemmt sich Tsinoy mit aufgestellten Stacheln gegen ein Schott. Von den Mädchen ist nichts zu sehen, aber Kim und Tomchin kriechen zu uns hinüber.
Plötzlich geht ein scharfer Ruck durch den ganzen Schiffskörper, und die Rotation setzt erneut ein, um gleich wieder zu stoppen. Weitere Schleifgeräusche. Ringsum erbebt das Tragwerk.
»Wir sollten im Kontrollzentrum nachsehen, was los ist, und dann überlegen, was wir unternehmen können«, sagt Kim. »Das kommt schneller auf uns zu als erwartet.«
»Was denn?«, frage ich, vom Schlaf immer noch leicht benebelt.
»Die nächste Katastrophe.«
Tolle Aussichten
E inen Moment lang sieht es so aus, als wollte der
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