Das Schloss in Frankreich
konzentrierte sich auf Tonys Bewirtung.
Was für eine Intrigantin, dachte sie und war überrascht, dass sie keineswegs beleidigt war. Sie will ausfindig machen, ob Tony ein würdiger Kandidat für ihre Großtochter ist, und er ist so überwältigt von ihrer Ausstrahlung, dass er überhaupt nicht bemerkt, was sie im Schilde führt.
Nach einer einstündigen Unterhaltung kannte die Gräfin Tonys ganze Lebensgeschichte: Familienherkunft, Erziehung, Liebhabereien, Karriere, politische Gesinnung -- viele Einzelheiten, mit denen nicht einmal Shirley vertraut war. Das Verhör war so geschickt und fein eingefädelt, dass Shirley zum Schluss am liebsten aufgestanden wäre, um ihrer Großmutter Beifall zu klatschen.
»Wann musst die wieder zurückfahren?« Sie wollte Tony davor bewahren, darüber hinaus auch noch seinen Kontostand aufzudecken.
»Ich muss morgen früh zeitig aufbrechen.« Er war völlig entspannt und bemerkte nicht einmal, in welche Position er hineinmanövriert worden war. »Ich würde gern länger bleiben, doch ...« Er zuckte die Schultern.
»Natürlich geht Ihre Arbeit vor«, beendete die Gräfin an seiner Stelle den Satz und sah ihn verständnisvoll an. »Aber Sie sollten unbedingt mit uns zu Abend essen, Monsieur Rollins, und bis morgen früh bei uns bleiben.«
»Ich möchte Ihre Gastfreundschaft nicht in Anspruch nehmen, Madame«, widersprach er, doch, wie es schien, nur halbherzig.
»Unsinn.« Die Gräfin zerstreute seinen Einwand mit königlicher Gebärde. »Ein Freund von Shirley, der von so weit herkommt ... Ich wäre gekränkt, wenn Sie nicht bei uns übernachten würden.«
»Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen. Ich danke Ihnen.«
»Es ist mir ein Vergnügen«, erwiderte die Gräfin und erhob sich. »Shirley, Sie müssen Ihrem Freund die Umgebung zeigen. Inzwischen kümmere ich mich darum, dass ein Zimmer für ihn hergerichtet wird.« Sie wandte sich Tony zu und streckte erneut ihre Hand aus. »Um sieben Uhr dreißig treffen wir uns beim Cocktail, Monsieur Rollins. Ich freue mich auf Ihren Besuch.«
8. K APITEL
Shirley stand gedankenverloren vor dem hohen Spiegel, ohne ihr Abbild zu beachten. Sie trug ein amethystfarbenes Kreppkleid, dessen weicher Faltenwurf ihre Hüften umschmeichelte. Shirley ließ noch einmal die Geschehnisse des Nachmittags an sich vorüberziehen, und ihre Gefühle schwankten zwischen Vergnügen, Entrüstung, Enttäuschung und Belustigung.
Nachdem die Gräfin gegangen war, hatte Shirley Tony flüchtig die Umgebung gezeigt. Dem Garten gewann er nur ein oberflächliches Interesse ab, das sich auf die Rosen und Geranien beschränkte, denn in seiner praktischen, nüchternen Art hatte er keinen Sinn für die Romantik der Farben, Formen und Düfte. Der Anblick des alten Gärtners amüsierte ihn, aber der überwältigende weite Ausblick von der Terrasse aus beeindruckte ihn nicht sonderlich. Er gab Shirley zu verstehen, dass er Häuserreihen und Verkehrsampeln jeder Gartenanlage vorzog. Darüber hatte Shirley nachsichtig freundlich den Kopf geschüttelt, und ihr wurde deutlich bewusst, wie wenig Gemeinsames es zwischen ihr und dem Mann gab, mit dem sie so viele Monate verbracht hatte.
Umso mehr jedoch beeindruckte ihn die Schlossherrin. Respektvoll gestand er, noch nie einem Menschen wie der alten Gräfin begegnet zu sein. Sie ist eine unglaubliche Frau, fand er. Shirley gab ihm insgeheim Recht, wenn vielleicht auch aus unterschiedlichen Gründen. »Sie wäre eines Throns würdig, von dem aus sie huldvoll Audienzen gewährt«, fuhr Tony fort. »Gleichzeitig war sie sehr an mir interessiert.« Shirley teilte seine Ansicht, aber sie ärgerte sich auch über Tonys Naivität. Mein lieber einfältiger Tony, dachte sie, es stimmt, dass sie höchst interessiert war. Aber welche Rolle hat sie in diesem Spiel übernommen?
Tonys Zimmer befand sich weit entfernt von ihrem auf der gegenüberliegenden Seite des Korridors. Shirley durchschaute die taktisch geschickte Maßnahme, und während Tony es sich bequem machte, suchte sie ihre Großmutter auf, unter dem Vorwand, sich für die an Tony ergangene Einladung zu bedanken.
Die Gräfin saß an einem eleganten Regence-Schreibtisch in ihrem Zimmer und erledigte Korrespondenz auf welligem Büttenpapier. Sie begrüßte Shirley mit einem unschuldigen Lächeln, gleichsam wie eine Katze, die einen Kanarienvogel verschlingt.
»Nun.« Sie legte den Federhalter zur Seite und wies auf einen niedrigen Brokatdiwan. »Ich hoffe, dass Ihr Freund
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