Das Schweigen der Laemmer
verdrängt hatte. Gracie Pitman saß direkt hinter Starling. Es schien ein langer Weg zu ihrem Platz. Gracie Pitmans Zunge hatte Zeit für zwei volle Rotationen in ihrer flaumigen Wange, bevor Starling in der Klasse untertauchen konnte.
Ohne Frühstück ließ sie zwei Stunden über ›Gutgläubiger Haft-befehl - die Ausnahme von der ausschließenden Regel bei Fahndung und Festnahme‹ über sich ergehen, bis sie zum Automaten gelangen und sich ein Cola ziehen konnte.
Am Mittag schaute sie in ihrem Briefkasten nach, doch es war keine Nachricht darin. Da kam ihr der Gedanke, wie auch schon bei einigen anderen Gelegenheiten in ihrem Leben, daß starke Frustration fast genau wie die Markenmedizin Fleet's schmeckt, die sie als Kind einnehmen mußte.
An manchen Tagen wacht man verändert auf. Dies war so ein Tag für Starling, daran bestand kein Zweifel. Was sie gestern in der Leichenhalle von Potter gesehen hatte, hatte eine kleine tekto-nische Verschiebung in ihr bewirkt.
Starling hatte auf einer guten Schule Psychologie und Kriminologie studiert. In ihrem Leben hatte sie einige der abscheulich beiläufigen Methoden gesehen, mit der die Welt Dinge zerbricht. Sie hatte es jedoch nicht wirklich gewußt, und nun wußte sie: Manchmal erzeugt die Menschenfamilie hinter einem menschlichen Gesicht einen Geist, dessen Vergnügen das ist, was auf dem Porzel-lantisch in Potter, West Virginia, lag, in dem Raum mit den Zentifolien. Starlings erste Vorstellung von diesem Geist war schlimmer als alles, was sie auf der Autopsiewaage sehen könnte. Das Wissen würde für immer auf ihrer Seele lasten, und sie wußte, daß sie eine Hornhaut bilden mußte, andernfalls würde es sie zermürben.
Die Unterrichtsroutine half ihr nicht. Den ganzen Tag lang hatte sie das Gefühl, daß alles nur knapp über dem Horizont weiterlief.
Sie schien ein unermeßliches Murmeln an Ereignissen zu hören, wie das Geräusch aus einem fernen Stadion. Andeutungen von Bewegung versetzten sie in Unruhe, auf dem Gang vorbeischlen-dernde Gruppen, über ihr dahinziehende Wolkenschatten, das Geräusch eines Flugzeugs.
Nach dem Unterricht rannte Starling zu viele Runden, und dann schwamm sie. Sie schwamm, bis sie an die Wasserleichen dachte, und dann wollte sie das Wasser nicht mehr auf ihrer Haut spüren.
Mit Mapp und einem Dutzend anderer Studenten schaute sie sich im Freizeitraum die 19-Uhr-Nachrichten an. Die Entführung von Senatorin Martins Tochter war nicht das Hauptthema, sondern kam erst nach den Genfer Rüstungsgesprächen.
Man zeigte einen Film aus Memphis, der mit dem Straßenschild der Stonehinge Villas begann, über das sich drehende Licht eines Streifenwagens aufgenommen. Die Medien stellten die Story groß heraus, und da es kaum Neues zu berichten gab, interviewten Reporter sich gegenseitig auf dem Parkplatz in Stonehinge. Die Be-hörden von Memphis und Shelby County zogen die Köpfe vor Wällen ungewohnter Mikrofone ein. In einer drängelnden, quiet-schenden Hölle aus aufflammenden Kameras und Audiofeed-backs führten sie die Dinge auf, die sie nicht wußten. Standfoto-grafen duckten sich und schössen wild irgendwelche Bilder. Jedesmal liefen sie rückwärts in die Fernsehminikameras, wenn Ermittler Catherine Baker Martins Apartment betraten oder verlie -
ßen.
Ein ironischer Hochruf wurde im Freizeitraum der Akademie laut, als Crawfords Gesicht kurz im Fenster des Apartments auftauchte. Starling verzog den Mundwinkel zu einem Lächeln.
Sie überlegte, ob Buffalo Bill zusah. Sie überlegte, was er von Crawfords Gesicht hielt oder ob er überhaupt wußte, wer Crawford war.
Andere schienen ebenfalls der Meinung zu sein, daß Buffalo Bill sich das ansah.
Da war Senatorin Martin, live im Fernsehen mit Peter Jennings.
Sie stand allein im Schlafzimmer ihres Kindes, vor einer Wand mit einem Wimpel der Southwestern University und Wile E. Coyote und den Zusatzartikel für Gleichberechtigung unterstützenden Postern.
Sie war eine große Frau mit einem starken, klaren Gesicht.
»Ich spreche nun zu der Person, die meine Tochter gefangenhält«, sagte sie. Sie ging dichter an die Kamera heran, wodurch diese unvorhergesehenerweise neu eingestellt werden mußte, und sprach, wie sie nie zu einem Terroristen gesprochen hätte.
»Sie haben die Macht, meine Tochter unversehrt freizulassen. Sie heißt Catherine. Sie ist sehr sanft und verständig. Bitte lassen Sie meine Tochter gehen, bitte lassen Sie sie unversehrt frei. Sie haben die Kontrolle
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