Das Schweigen der Toten
ihm einen Becher aus der Hand. «Und hoffentlich mit viel Oktan.»
Nick bekam ein schlechtes Gewissen, als er Kat dabei beobachtete, wie sie mit Koffein gegen ihre Erschöpfung anzukämpfen versuchte, an der er nicht ganz unschuldig war. Er hatte sich die Nähte am Leichnam von George Winnick angesehen und Morgenluft gewittert, als der Betsy-Ross-Killer der Polizei ins Netz gegangen war. Um den Fall möglichst schnell abschließen zu können, hatte er Ken Millers Geständnis trotz aller Bedenken ernst genommen. Dieser Fehler machte ihm zu schaffen.
«Tut mir leid», sagte er. «Ich hab mich getäuscht.»
«Wir haben uns alle getäuscht», sagte Cassie. «Das Profil stimmte. Wir hätten uns daran halten sollen.»
Kat leerte ihren Becher und sagte dann: «Erstens, keine weiteren Entschuldigungen. Zweitens, wenn das Profil stimmt, erklären Sie mir bitte, nach welcher Person wir suchen. Ich habe da nämlich etliche Fragen.»
«Zum Beispiel?»
«Warum jetzt? George wurde im März umgebracht. Warum wartet der Täter bis zum 4. Juli, um Troy zu töten?»
«Es gibt zwei Typen von Serienmördern», antwortete Nick. «Beide haben ihre ganz eigenen Merkmale. Der eine ist desorganisiert und kontaktscheu, der andere organisiert und unsozial.»
«Worin besteht der Unterschied?»
Nick überließ Cassie das Wort. Mörder zu verstehen war ihre Spezialität, seine war es, sie zu fassen.
«Desorganisierte, kontaktscheue Straftäter haben für gewöhnlich einen IQ unter neunzig und meiden den Kontakt zu anderen Menschen», antwortete sie. «Es fällt ihnen schwer, sich zu beherrschen. Manchmal töten sie aus einem Impuls heraus, ohne sich die Mühe zu machen, ihre Spuren zu verwischen. Anschließend können sie ihre Tat einfach ausblenden und vergessen.»
«Ich schätze, nach einem solchen Killer suchen wir nicht», sagte Kat.
Cassie schüttelte den Kopf. «Unser Mann ist organisiert und von ganz anderem Schlag, nämlich hochintelligent und durchtrieben. Er plant alles genau und findet die Planung seiner Tat häufig aufregender als die Tat selbst.»
«Es reizt ihn», sagte Nick, «sich die Tat bis ins Detail hinein vorzustellen. Die Planung ist für ihn eine Art Vorspiel. Das erklärt auch den großen zeitlichen Abstand.»
Kat stellte eine zweite Frage: «Wie erklären sich die Entführungen? George wurde aus seiner Scheune verschleppt, Troy aus dem Umkleideraum. Beide wurden weder dort noch am Fundort getötet.»
Auch das kennzeichnete organisierte Mörder: Sie töteten nicht an Ort und Stelle und zogen es vor, ihre Opfer zu entführen, um sie nach vollendeter Tat an anderer Stelle zu deponieren.
Darüber aufgeklärt, sagte Kat: «Damit stellt sich die Frage, wo sie getötet wurden und wie sie dorthin gelangt sind.»
«Rudy hat vergangene Nacht Spuren am Sarg gefunden», berichtete Nick. «Blütenreste einer Nelke, ursprünglich rosa, aber inzwischen verwelkt.»
«Und wo könnte die herkommen?»
«Er hat zwei Theorien. Entweder war die Blüte schon im Wasser und ist zufällig am Sarg haften geblieben, oder –»
«Sie stammt vom Tatort», mutmaßte Kat.
«Richtig», sagte Nick. «Vielleicht aus einem Gewächshaus oder einem Garten.»
«Was das Transportmittel angeht, tippen wir immer noch auf einen Pick-up», ergänzte Cassie. «Für einen Sarg braucht man eine Ladefläche.»
«Wir sprechen immer von einem Er. Könnte es sich auch um eine Frau handeln? Die erste Faxnummer war auf eine Person mit dem Namen Ester Domit angemeldet.»
Auch ohne zu wissen, inwiefern jene Miss Domit in den Fall verwickelt war, glaubte Nick sicher sein zu können, dass sie die Morde nicht begangen hatte.
«Nein. Der Killer ist ein Mann», antwortete er. «Kein Zweifel.»
Cassie pflichtete ihm bei. «Serienmörderinnen sind meist Prostituierte oder in Pflegeberufen tätig oder – wie im Fall einiger Mitglieder des Mansons-Clans – einer Gehirnwäsche unterzogen worden. Als Tatwaffen bevorzugen sie Pistolen und Gift. Messer oder Stricke kommen für sie nicht in Frage. Sie verstümmeln auch nicht. Das überlassen sie ihren männlichen Kollegen.»
«Na schön. Aber was halten Sie davon?», fragte Kat und zeigte auf das tragbare Faxgerät auf ihrem Schreibtisch. «Das hat Henry Goll heute Morgen vor seiner Tür gefunden.»
Sie musterte die Maschine. Sie war brandneu und baugleich mit dem Modell, das Henry ihnen im März gebracht hatte.
«Vielleicht will sich der Killer damit brüsten», meinte Cassie. «Er will uns zeigen,
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