Das Schwein sieht Gespenster: Roman (German Edition)
Beschluss von Lord Shaftoe, die beiden hängen zu lassen.
Nach all diesen Gedankenspielen sah Kitty dem Treffen mit Maude McCloskey etwas gelassener entgegen. Der Weg zu ihr führte über drei Hügel, und schon, als sie den ersten hinaufstieg, verfiel sie in eine alte Gewohnheit: Beim Laufen konnte der Kopf arbeiten.
The House of Mirth,
der Roman von Edith Wharton, den Declan ihr gebracht hatte, ließ ihr keine Ruhe. Es war das einzige Stück, das ihr aus dem verlorenen Haus geblieben war, das ihr die Fluten unerwartet zurückgegeben hatten. Schon das allein war Grund genug, einen nachdenklich zu machen. Warum war gerade dieses Buch ans Ufer gespült worden – kein anderes? Wiederum, war sie nicht Schriftstellerin? Genau genommen warschon allein die Tatsache, dass der Roman von Edith Wharton alias Pussy Jones in ihrem Bücherregal gestanden hatte, Beweis genug, dass sie ihn in die engere Wahl für eine Bearbeitung gezogen hatte. Und jetzt erinnerte sie sein Wiederauftauchen energisch daran, diesem Ansinnen ernsthaft nachzugehen. Kitty glaubte zwar nicht an Omen, doch auch an Geister hatte sie nicht geglaubt – und was war daraus geworden? Sie musste an Declan denken, wie er ihr das Buch gebracht hatte. Und in dem Zusammenhang gleich daran, dass er auch von Maude sprach, die er gesehen hätte. Und bei dieser Vorstellung blitzte ein anderer Gedanke auf, der ihr zuvor noch nie gekommen war. Hatte Maude ihn zu sich eingeladen? Oder hatte er sie ausfindig gemacht? Hatten sie sich rein zufällig getroffen? War das Gespräch über eventuelles Dachdecken nur ein Vorwand für Begegnungen gewesen? Von früheren gemeinsamen Erlebnissen der beiden wusste Kitty nichts. Konnte es etwa sein …
Kaum kam ihr dieser absurde Gedanke, da hakte er sich auch schon fest. Kitty wurde ihn nicht los. Aber was da an ihr nagte, konnte einfach nicht sein. Nein, nicht Declan! Bei all seinen Verrücktheiten – er hatte Niveau! Kitty selbst war der lebende Beweis dafür. Niemals würde er sich so weit herablassen und … Nein. Nicht er. Maude McCloskey doch nicht. Unmöglich. Nicht Declan, der sich in solcher Herrlichkeit hatte wiegen dürfen, nie im Leben würde er die höchsten Wonnen, die er mit Kitty genossen hatte, durch minderwertige Angebote entweihen, nie würde er versuchen wollen, sie bei einer anderen zu erleben, von übertreffen wollen konnte schon gar nicht die Rede sein.
Kitty beschleunigte ihren Schritt, strebte entschlossen ihrem Ziel entgegen, hügelauf und hügelab. Sie war schon auf dem zweiten Hügel, als Peter, Maudes acht Jahre alter Sohn, sie auf seinem Fahrrad überholte. Seinen Rucksack mit den Schulbüchern balancierte er vor sich auf dem Lenker, und wie immer war sein Hund Joey sein treuer Begleiter. Peter hielt an, und auch der Hund blieb stehen.
Der Junge stieg ab, schob sein Fahrrad und lief neben Kitty her. »Es stört Sie doch nicht, wenn ich mit zu Fuß laufe? Sie sind so in Gedanken versunken, irgendwie ganz weit weg.« Seine Kleidung sah ziemlich mitgenommen aus, der Pullover war völlig verrutscht, das Hemd steckte nicht in der Hose, und die war an den Knien völlig verdreckt, an den Schuhen klebte Schmutz, die Schnürsenkel hingen lose herum. Die rechte Wange war grün verschmiert, offensichtlich von Gras, und auf dem verschwitzten Gesicht waren etliche Kratzer. Das Haar war so wie immer, so etwas wie einen Kamm kannte Peter nicht.
Kitty ging nicht fehl in der Annahme, dass es auf dem Schulhof eine Prügelei gegeben hatte und der treue Hund zu spät hinzugekommen war, um seinem Herrn zur Seite zu springen. »Weil ich etwas dünn geraten bin, ist er darauf abgerichtet, jeden, der mich in der Schule nur anfasst, zu beißen«, hatte ihr Peter vergangenes Jahr erklärt, denn der Hund hatte zugebissen, als sie Peters Wange nur liebevoll getätschelt hatte. Wo war diesmal der Hund geblieben, als seine Dienste dringend nötig gewesen wären?
Auf seine Bemerkung über ihren geistesabwesenden Blick erwiderte sie: »Ich gedenke an einem neuen Buch zu arbeiten, und da ging mir einiges durch den Kopf.«
»Oh, ein Buch. Ja, natürlich. Meine Mutter sagt, Sie sind eine von den ganz Großen. Stimmt das?«
»Wie sollte ich deiner Mutter widersprechen?«
»Sie sagt, Sie würden Dinge sehen, die niemand anders sieht. Stimmt auch das?«
»Na ja, deshalb schreiben Schriftsteller ja schließlich.« (Dass sowohl Peter als auch seine Mutter über ähnliche übernatürliche Fähigkeiten verfügten, ließ sie außen
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