Das Schwein unter den Fischen
angehen. Er schließt die Tür, die Rollos werden bis zur Hälfte wieder hochgezogen. Ich warte, es vergeht fast eine Stunde, mein Magen knurrt und drückt. Gerade als ich mich entscheide, die Angelegenheit zu vertagen, öffnet sich die Tür und Ramonas Lover tritt heraus. Er trägt einen Rucksack, über einer Schulter hängt ein Turnbeutel. Mein Verdacht, dass es sich um Pflegedienstleiter Joachim Matthias handelt, verstärkt sich, als ich ihn mit einem schweren Schlüsselbund mit Karabinerhaken an der Tür herumhantieren sehe. Er überprüft immer wieder, ob abgeschlossen ist. Irgendwann scheint er endlich überzeugt zu sein und steckt sich den Schlüsselbund in die Hosentasche.
Dann läuft er direkt an mir vorbei und rempelt mich an, ohne sich zu entschuldigen. Ich folge ihm mit ein wenig Abstand. Er sieht ganz anders aus als Reiner, er ist nicht so groß, aber dünn und drahtig, trägt ein kurzärmeliges, kariertes Hemd und eine enge, zu kurze Jeans. Seine Beine sind stark behaart, die nackten Füße stecken in Wildleder-Mokassins mit Bommeln dran. Unter einer Schiebermütze lugen seine schwarzen Locken hervor. Plötzlich bleibt er stehen, holt umständlich eine Thermoskanne aus seinem Rucksack, verschüttet beim Einschenken die Hälfte und trinkt hastig den Becher aus. Dann setzt er seinen Weg fort, nimmt die Mütze ab und entblößt seine Halbglatze. Mit einem Stofftaschentuch wischt er darüber und auch über die Stirn. An einer Bushaltestelle bleibt er schließlich stehen, schließt lange die Augen und atmet tief ein und aus. Als der Bus kommt, steigt er vorne ein und geht unbehelligt am Fahrer vorbei. Meine Karte will der Fahrer sehen. Ich zeige ihm meine alte Schülermonatskarte und werde angebrüllt, dass ich jemand anderen verarschen könne. Ich entschuldige mich unterwürfig und behaupte, ich habe meine neue Karte verloren. Der Busfahrer richtet den Blick frontal aufs Fenster und sagt, das wäre alles Pillepalle, ich müsse jetzt bezahlen oder sofort aussteigen. Während ich in meinen Taschen wühle, haut er auf seinem Lenkrad herum. Mir fehlen fünfzehn Cent für ein Ticket. Ramonas Lover und die anderen Fahrgäste gucken auf den Boden. Ich muss aussteigen, die Tür schließt sich sofort mit einem Zischen, und der Bus braust davon.
Ramona hat mir tatsächlich einen Jeansrock aufs Bett gelegt. Dazu einen knallroten Lippenstift, eine Probe von
Hypnotic Poison
, aufklebbare Nägel, Strassohrringe und falsche Wimpern.
Sie geht zweimal die Woche in das himmelblaue Haus, montags und freitags, und sie behauptet dann, sie ginge zum Bauchtanz. Ich bitte ständig darum, sie begleiten zu dürfen, und habe neulich sogar behauptet, auch Bauchtanz lernen zu wollen.
»Dafür braucht man schon einen Bauch, Stinker, da warte mal noch zehn Jahre, du Gräte!«, hat sie nur gemeint.
Ich überlege, ob ich Reiner von der Sache erzählen soll, und weiß nicht, was mich davon abhält.
Seit einigen Wochen bin ich dazu übergegangen, nur noch Joachim Matthias zu beobachten. Um sicherzugehen, dass es sich um Joachim Matthias handelt, habe ich mich einmal hinter der Litfaßsäule versteckt und laut und deutlich seinen Namen gerufen. Irritiert hat er sich nach allen Seiten umgesehen, sogar Richtung Himmel.
Montags und freitags geht er in das Restaurant
Napoleon
. Er bestellt jeden Montagmittag Cordon Bleu und freitags eine Quiche Lorraine. Nachdem er sich montags von Ramona verabschiedet hat, macht er sich kurze Zeit später auf den Weg zum Sport, deswegen der Turnbeutel.
Ich sitze mit ihm im Bus und starre ihn die ganze Zeit über an. Er bemerkt es nicht. Auf eine beneidenswerte Art scheint er in sich versunken zu sein. Vielleicht ist er aber auch bloß müde.
Beinahe verpasst er seine Haltestelle, erst im letzten Moment, kurz bevor die Türen sich wieder schließen, schreckt er hoch und springt auf die Straße. Ich werde von den Türen eingeklemmt, als ich ihm hinterherrenne. Der Busfahrer brüllt:
»Mensch, Mädchen, wo bist du denn schon wieder mit deinen Gedanken?« Als ich auf der Straße stehe, ist Joachim Matthias schon um die nächste Ecke gebogen. Ich renne ihm nach und sehe gerade noch, wie er in einem Kiosk verschwindet. Fünf Minuten später kommt er wieder heraus und hält sich ein verpacktes Eis an die Stirn. Ich bleibe stehen und schauein ein Schaufenster, sodass ich ihn in der Scheibe beobachten kann. Er wirft das Eis in einen Mülleimer, riecht an seiner Hand, massiert sich den Nacken und die
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