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Das Schwert und die Lämmer: Roman (German Edition)

Das Schwert und die Lämmer: Roman (German Edition)

Titel: Das Schwert und die Lämmer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Kern
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nur die schlechten sind geblieben.« Lena setzte sich auf eine Bank. »Du hast Glück, dass du ihn noch einmal sehen kannst.«
    »Was ist mit ihm geschehen?«
    »Er verlässt unsere Welt, denke ich. Der Engel holt ihn zu sich, Stück für Stück.«
    Ich verstand zunächst nicht, wie sie das meinte, doch dann hob Nicolaus den Kopf. Sein rechtes Auge war von einem weißen Film überzogen, das linke schielte.
    »D-du … d-du b-b-bist … Hu-hure … hier«, stotterte er. Das Sprechen schien ihn anzustrengen, bei jedem Wort verzerrte sich sein Gesicht, und die Muskeln an seinen Kiefern zuckten.
    »Ich wollte sehen, wie es dir geht.« Ich streckte die Hand aus, strich ihm über die Wange, und das Zucken ließ nach. Er schloss sein schielendes Auge, das andere blieb offen. Wie ein Tier schmiegte er sich gegen meine sanfte Berührung. »Alles wird gut, Nicolaus. Du kannst dich jetzt ausruhen.«
    Ich spürte plötzliches wildes Zucken unter meiner Hand, zog sie im letzten Moment weg, als Nicolaus nach mir schnappte.
    »Hure!«, schrie er. »Hure! Hure! Hure!«
    Das Wort hallte durch die Kirche. Ich wich erschrocken zurück. Er hörte nicht auf zu schreien, wiederholte das Wort immer wieder, wobei ihm der Speichel von den Lippen spritzte.
    Lena war aufgesprungen, hatte nach einem Stock gegriffen und schlug Nicolaus damit in den Magen. Er hörte auf zu schreien und würgte.
    »Wenn er einmal angefangen hat, bekommt man ihn nur so wieder ruhig«, erklärte Lena ungerührt, als sie meinen Blick gewahrte. »Sonst schreit er, bis seine Stimme versagt. Die Nonnen dachten, es würde vielleicht besser werden, wenn sie ihn in die Kirche bringen und er die Messe hören kann, aber bisher …« Sie brach ab und hob die Schultern. »Ich pflege ihn, so gut ich kann. Deshalb bin ich hiergeblieben. Es sollen ihn keine Fremden ins Grab begleiten, das verdient er nicht.«
    »Nein.«
    Wir setzten uns nebeneinander auf die Bank. Nicolaus hing in seinen Ketten und stöhnte. Sein Anblick verstörte mich. Warum vernichtete Gott einen Jungen, den er selbst erwählt hatte?
    »Vielleicht liebt er ihn wie seinen Sohn«, sagte Lena, als ich ihr die Frage stellte.
    Wir schwiegen. Nicolaus stöhnte.
    »Willst du hierbleiben?«, fragte ich nach einer Weile.
    »Warum nicht.« Sie klang resigniert. »Die Nonnen sind froh über jede, die zur römischen Kirche gehört. Sie lassen mich größtenteils in Ruhe. Ich pflege Nicolaus, arbeite auf dem Feld und bekomme genug zu essen. Es gibt Schlimmeres.«
    »Der Papst hat den ganzen Kreuzzug für ein Jahr mit einem Kirchenbann belegt.«
    Lena sah mich an, und Angst stand in ihren Augen. »Warum?«
    »Weil wir Nicolaus gefolgt sind.«
    Sie dachte einen Moment darüber nach. »Glaubst du, die Nonnen werden davon erfahren?«
    »Solange du es ihnen nicht sagst …« Ich schüttelte den Kopf.
    Das schien sie zu beruhigen.
    Ich lächelte. »Und du solltest versuchen, in diesem einen Jahr nicht zu sterben.«
    »Ich gebe mein Bestes.« Lena lachte. »Ich will nicht die Ewigkeit mit Heiden und Jud…« Sie unterbrach sich und verzog das Gesicht. »Du weißt schon, was ich meine.«
    Ich wünschte, ich hätte es nicht gewusst.
    Nicolaus hob den Kopf. »Madlen?«
    Ich stand auf. »Ich bin hier.«
    »Ist es nicht wunderschön?« Das Stottern war verschwunden. Sein blindes Auge starrte ins Nichts.
    Ich warf Lena einen kurzen Blick zu, aber sie hob nur die Schultern.
    »Ja«, sagte ich, »das ist es.«
    »Ich weiß, dass du gezweifelt hast. Alle haben gezweifelt. Doch jetzt höre ich sie l-lachen. G-ganz Jerusalem lacht.«
    »Jerusalem?«, fragte Lena. Sie griff nach dem Stock. »Nicolaus, du …«
    Ich drückte ihr die Hand nach unten. »Lass ihn.«
    »Hörst du sie, Madlen?« Er legte den Kopf schief, wobei ihm Blut aus der Nase tropfte.
    »Ja. Wir hätten nie an dir zweifeln sollen.« Mit dem Handballen wischte ich mir die Tränen von den Wangen. »Wir waren kleingläubig und schwach.«
    »G-Gott vergibt euch.« Krämpfe zuckten durch Nicolaus’ linkes Bein. Die Ketten, die es hielten, spannten sich und klirrten. »Der E-E-Engel hat es g-ge-gesagt. So lange ha-hatt-hatte er geschwiegen, s-s-so lange, doch jetzt h-höre ich ihn jeden Tag.« Sein blindes Auge richtete sich auf mich. Das andere öffnete sich. »Manchmal sehe ich ihn s-sogar.« Blut floss ihm aus beiden Nasenlöchern, lief ihm über Mund und Kinn und tropfte zu Boden. Er merkte es nicht einmal.
    Lena bückte sich und hob eines der Tücher auf, die neben einem

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