Das Schwert und die Lämmer: Roman (German Edition)
erschrocken um. Nicolaus stand auf der anderen Seite des Zauns. Er hatte dort auf einem Fell gelegen.
Einen Moment lang dachte ich über seine Worte nach, dann nickte ich. »Ja.«
»Warum?«
»Weil …« Ich zögerte. »Weil ich nicht möchte, dass sie auf uns herabsehen. Wir haben Respekt verdient.«
Nicolaus lächelte und ging auf den Zaun zu. Ein Soldat zog hastig einen Pflock heraus und zerrte das Seil nach oben, damit er eintreten konnte.
»Sie werden uns erst respektieren, wenn wir die Fahne des Kreuzes über Jerusalem hissen. Bis dahin werden sie lachen, uns verhöhnen und beschimpfen. Kleidung wird daran nichts ändern.«
Ich ahnte, dass das stimmte, doch in meinen Gedanken sah ich die Adligen und Kirchenfürsten, die zu den Banketten meines Herrn – nein, so durfte ich nicht denken, der Graf war nicht mehr mein Herr – angereist waren. Die Pelze, die sie getragen hatten, der feine Samt, die Farben … Als schritten Pfaue zwischen Spatzen hindurch. Sie hatten uns noch nicht einmal angesehen. Unsere Kleidung, schmutzig und braun wie die Erde, hatte uns unsichtbar gemacht.
»Ich möchte dazugehören«, sagte ich nach einem Moment. »Wenigstens für einen Abend.«
»Du weißt, dass du in Gottes Hierarchie weit über ihnen stehst.« Nicolaus sah mich an.
Ich nickte, beschämt darüber, wie wichtig es mir war, für wenige Stunden eine Lüge zu leben.
Er schwieg und drehte den Schäferstab zwischen seinen Fingern. Ich hatte längst erkannt, dass er das stets dann tat, wenn er über etwas nachdachte.
»Nimm dir, was du möchtest«, sagte er schließlich, »solange du es heute Nacht zurücklegst.«
Er klang enttäuscht, als hätte er mehr von mir erwartet.
»Ich danke dir.«
Lukas begleitete mich zu dem Karren mit gespendeter Kleidung, wollte wohl aufpassen, dass ich nicht mehr nahm, als mir zustand. Die meisten Sachen waren einfach: Wollumhänge, so oft geflickt wie meiner, Leinenhemden, schwere Wollröcke und Beinlinge. Zögerlich zog ich das eine oder andere Kleidungsstück heraus, betrachtete es und legte es wieder zurück. Ich kam mir vor, als täte ich etwas Verbotenes, als dränge ich in das Leben fremder Menschen ein. Es war ein seltsames Gefühl, schließlich waren all diese Sachen gespendet worden, trotzdem konnte ich es nicht abschütteln. Am Boden des Karrens fand ich Lederschuhe. Sie waren mir zu groß, aber ich nahm sie trotzdem.
»Die passen dir doch nicht«, sagte Lukas, als er sie sah. Er hatte ebenfalls begonnen, in dem Karren herumzuwühlen, aus Langeweile, vermutete ich. Nicolaus saß ein Stück entfernt auf einem Fass und beobachtete uns.
Ich hob die Schultern. »Wenn ich Blätter hineinstopfe, wird es schon gehen.«
Meine Hoffnung sank, je länger die Suche dauerte. Nach einer Weile stieg ich in den Karren, wühlte darin mit beiden Händen. Alles, was ich fand, war erdfarben, schmutzigbraun und grau. Es war, als steckten meine Arme in Dreck.
Und dann sah ich es. Etwas leuchtete blau zwischen Wolle und Leinen. Ich griff danach, spürte den weichen, dichten Stoff. Es war ein Kleid. Ich zog es heraus, bewunderte die blaue Farbe, die in der Sonne zu leuchten schien, die weit fallenden Ärmel und die kunstvoll bestickten Bünde. Ein feiner Schleier steckte im Gürtel. Es war das Kleid einer Dame, gemacht für Schlösser und Bankette, für rauschende Feste und Kirchgänge am Sonntag. Ich wusste nicht, wie es in den Karren geraten war, wer es gespendet hatte und warum. Ich wusste nur, dass ich es nicht wieder zurücklegen würde.
»Das kannst du nicht anziehen«, sagte Lukas. »Du bist eine Magd, keine …«
»Ich bin eine Kreuzfahrerin.« Ich stieg vom Karren, das Kleid unter dem Arm haltend. »Nur Gott darf entscheiden, welche Farben ich trage und welche nicht.«
»Sie hat recht«, sagte Nicolaus. »Der Stand, aus dem wir kommen, ob wir frei oder unfrei waren, bedeutet dem Herrn nichts.«
»Aber er bedeutet vielleicht der Stadtwache etwas.« Lukas widersprach Nicolaus nur selten, aber wenn er es tat, dann mit großer Vehemenz. »Man könnte sie verhaften.«
Nicolaus wischte seinen Widerspruch mit einer Geste fort, stand auf und stieg über den Zaun, bevor ein Soldat ihn durchlassen konnte. »Zieh es an, Madlen«, sagte er über die Schulter an mich gewandt. »Es wird dir nichts geschehen.«
Und das tat ich. Im Unterholz, so weit vom Lager entfernt, wie ich zu gehen wagte, legte ich meine Lumpen ab und streifte mir das Kleid über den Kopf.
Es roch feucht und ein wenig nach
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