Das silberne Zeichen (German Edition)
sehnte sich nach der Ruhe und Geborgenheit jenes Hauses am Aachener Büchel, nach der Herausforderung, die ihm das neue Leben als Schreinermeister bot, und – natürlich – nach Marysa. Sie war es, die seinem Leben plötzlich einen völlig neuen Sinn gab. Er dachte an Aldo Schrenger, Marysas Bruder, der ihn vor Jahren darum gebeten hatte, sich seiner Mutter und Schwester anzunehmen und ihnen beizustehen. Hatte Aldo damals schon geahnt, was aus diesem Versprechen erwachsen würde? Christoph wusste es nicht mit Sicherheit zu sagen. War es überhaupt möglich, dass ein Mann – noch dazu auf dem Sterbebett – dergestalt Schicksal spielte? War dafür nicht eher Gott, der Allmächtige, zuständig?
Letztendlich, überlegte Christoph, war es belanglos, wie er den Weg nach Aachen gefunden hatte. Wichtig war nur, dass er dort sicher ungeduldig erwartet wurde. Für die kommende Nacht hatte er ein Bett in einer der Herbergen ergattert. Gleich nach dem Öffnen der Stadttore am Morgen würde er sich auf den Weg machen.
Heute würde er allerdings nicht mehr viel ausrichten können. Die Sonne stand schon tief, bald würde die Abenddämmerung hereinbrechen. Die ersten Bauern und Händler auf dem Markt waren bereits dabei, ihre nicht verkauften Waren zusammenzupacken.
Ziellos wanderte Christoph zwischen den Buden und Schragentischen hindurch, bis plötzlich der Stand eines Hökers seine Aufmerksamkeit fesselte. Der Mann bot Ketten und diverse Schmuckstücke feil, von denen eines Christophs Neugier ganz besonders fesselte. Er trat näher und bat den Mann, das kleine Kunstwerk genauer betrachten zu dürfen.
6. KAPITEL
Marysa gähnte und tappte, eine Öllampe in der Hand, vorsichtig die Stufen der Treppe hinunter. Aus der Küche vernahm sie ein leises Rumoren. Balbina war vermutlich schon dabei, die Morgenmahlzeit zuzubereiten. Es war sehr früh, die Sonne machte noch längst keine Anstalten, ihr Haupt über die Stadt zu erheben. Doch Marysa hatte es nicht länger im Bett ausgehalten. Zu viele Gedanken schwirrten ihr im Kopf herum, und zu lang war die Liste der Aufgaben, die sie heute zu bewältigen hatte. Das leichte Flattern in ihrem Bauch – dem Flügelschlag eines Schmetterlings ähnlich – hatte sie geweckt und ließ sie nun mit einer Mischung aus Freude und Besorgnis zurück. Ihre Eltern hatten recht – lange würde sie ihre Schwangerschaft nicht mehr verbergen können. Allmählich wandelte sich ihre Sorge um Christoph in einen ausgewachsenen Ärger. Wo blieb er nur? Konnte er sich nicht denken, dass sie sich um ihn sorgte? Hätte er nicht wenigstens eine Nachricht schicken können? Eines stand fest: Wenn er bei seiner Rückkehr nicht eine wirklich gute Entschuldigung vorbrachte, würde sie ihm die Hölle heißmachen.
Sie wollte gerade die Tür zur Küche öffnen, als ihr der schmale Lichtstreifen unter der Tür zur Werkstatt auffiel. Waren ihre Gesellen etwa schon bei der Arbeit? Normalerweise müssten sie zu dieser frühen Stunde noch in ihren Betten liegen.
Neugierig trat sie auf die Tür zu und öffnete sie. Überrascht erblickte sie die Öllampe auf einer der Werkbänke. Daneben hockte Leynhard, den Kopf auf seine Arme gebettet, und schlief. Leise ging sie auf ihn zu und berührte ihn vorsichtig an der Schulter. «Leynhard?»
Der junge Geselle fuhr mit einem erschrockenen Laut hoch, griff dabei nach einem der Reliquiare, an denen er vermutlich noch lange gearbeitet hatte, und fegte es ungeschickt zu Boden. «Frau Marysa! Verzeiht, ich habe … ich bin …»
«Du bist wohl eingeschlafen», vollendete Marysa lächelnd sein Gestammel. «Hast du gestern noch sehr lange gearbeitet?»
«Ich, ähm, ja.» Leynhard bückte sich nach dem Reliquiar und richtete sich wieder auf. «Ich konnte nicht schlafen, und da dachte ich, dass ich mich genauso gut nützlich machen könnte.» Beiläufig legte er das Amulett zu den beiden anderen. «Dieser Auftrag vom Marienstift ist sehr wichtig für uns … für Euch, meine ich.»
«Deshalb musst du doch nicht Tag und Nacht daran arbeiten.» Sachte schüttelte Marysa den Kopf. «Solange die Sache mit den gefälschten Silberstücken nicht geklärt ist, wird uns Herr van Oenne ohnehin keine weiteren Reliquiare abnehmen.»
«Ihr habt aber die Abzeichen nicht vertauscht!», protestierte Leynhard. Die Empörung stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.
«Das muss erst bewiesen werden», antwortete Marysa in beruhigendem Ton. «Wir sollten das Stift und die Schöffen in dieser
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