Das Silmarillion
erstes Lager an den Nordufern des Sees von Mithrim auf. Keine Freundschaft für das Haus Feanor empfanden sie, die Fingolfin folgten, denn Schweres hatten sie beim Übergang über das Eis erlitten, und in Feanors Söhnen sah Fingolfin Mitschuldige ihres Vaters. Nun bestand Gefahr, dass beide Lager handgemein wurden; doch so groß auch ihre Verluste unterwegs gewesen waren, Fingolfins Schar und die von Finrod, Finarfins Sohn, waren immer noch zahlreicher als die Feanors; und diese zog sich nun vor ihnen zurück und legte ein neues Lager am Südufer an, so dass der See zwischen ihnen war. Viele aus Feanors Gefolge bereuten zwar die Schiffsverbrennung bei Losgar, und voller Bewunderung waren sie für den Mut, der die Freunde, die sie verlassen, über das Eis des Nordens geführt hatte; doch aus Scham wagten sie es nicht, sie willkommen zu heißen.
So, wegen des Fluchs, der auf ihnen lag, richteten die Noldor nichts aus, während Morgoth zauderte und das Entsetzen vor dem Licht bei den Orks neu und stark war. Morgoth aber erwachte aus seinem Sinnen, und als er sah, dass seine Feinde uneins waren, da lachte er. In den Gruben von Angband ließ er gewaltigen Rauch und Qualm entfachen, und Wolken fielen von den stinkenden Gipfeln der Eisenberge, und aus der Ferne konnte man sie in Mithrim sehen, wie sie die klaren Lüfte in den ersten Morgentagen der Welt besudelten. Ein Wind kam aus Osten und wehte sie über Hithlum, die neue Sonne verdunkelnd; und sie sanken herab, krochen über die Felder und lagen über den Wassern des Mithrimsees, finster und giftig.
Da beschloss der tapfere Fingon, Fingolfins Sohn, die Fehde zu beenden, welche die Noldor trennte, ehe noch ihr Feind zum Krieg gerüstet wäre; denn der Boden zitterte in den Nordlanden über dem Dröhnen von Morgoths unterirdischen Schmieden. Vor langer Zeit, im glückseligen Valinor, ehe Melkors Fesseln abgenommen waren und seine Lügen Zwietracht gestiftet hatten, war Fingon Maedhros’ Freund gewesen; und obgleich er noch nicht wusste, dass auch Maedhros vor der Verbrennung der Schiffe an ihn gedacht hatte, stach ihn der Gedanke an ihre alte Freundschaft ins Herz. Er wagte deshalb eine Tat, die mit Recht Ruhm genießt unter allen Taten, welche die Prinzen der Noldor geleistet: Allein und ohne irgendeines andern Rat machte er sich auf die Suche nach Maedhros; und im Schutze der Dunkelheit, die Morgoth selbst geschaffen, kam er ungesehen durch das Land seiner Feinde. Hoch auf die Schultern von Thangorodrim kletterte er hinauf, verzweifelt in dem öden Lande umherblickend, doch keinen Durchlass und kein Mauerloch fand er, die ihn in Morgoths Burg geführthätten. Dann, den Orks zum Trotz, die noch in ihren dunklen Verliesen unter der Erde hockten, nahm er seine Harfe und sang ein Lied aus Valinor, das die Noldor einst gedichtet, ehe Streit unter Finwes Söhnen aufkam; und seine Stimme erscholl über den trostlosen Höhlen, die nie zuvor andres vernommen hatten als Schreie von Angst und Schmerz.
So fand Fingon, wen er suchte. Denn plötzlich hörte er über sich, schwach und von fern, wie sein Lied aufgenommen wurde und eine Stimme ihm antwortete. Maedhros war es, der in seinen Qualen sang. Fingon aber kletterte zum Fuße des Felsens, an dem sein Vetter hing, doch dann kam er nicht weiter; und er weinte, als er Morgoths grausames Werk sah. Maedhros nun, in seinem Schmerz und ohne Hoffnung, bat Fingon, ihn mit seinem Bogen zu erschießen, und Fingon legte einen Pfeil auf und spannte. Und da er keine andere Hoffnung mehr sah, rief er Manwe an und sagte: »O König, dem alle Vögel lieb sind, hilf nun auch diesem gefiederten Schaft und gedenke mit Erbarmen der Noldor in ihrer Not!«
Sein Gebet wurde sogleich beantwortet. Denn Manwe, dem alle Vögel lieb sind und dem sie Nachricht aus Mittelerde auf den Taniquetil tragen, hatte das Volk der Adler ausgesandt, mit dem Auftrag, in den Felsen des Nordens zu nisten und auf Morgoth Obacht zu geben; denn noch immer hatte Manwe Mitleid mit den verbannten Elben. Und von vielem, das in jenen Tagen geschah, trugen die Adler Nachricht an Manwes Ohr. Und jetzt, als Fingon eben den Bogen spannte, ließ sich aus den hohen Lüften Thorondor nieder, der König der Adler und der gewaltigste von allen Vögeln, die je gewesen, dessen ausgespannte Schwingen dreißig Faden maßen; und, Fingons Hand Einhalt gebietend, trug er ihn empor bis zu der Spitze des Felsens, wo Maedhros hing.Doch die Höllenfessel an seinem Handgelenk konnte Fingon weder
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