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Das Spiel

Das Spiel

Titel: Das Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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habe vor, zur Hauptstraße zu fahren, das ist alles. Ein Kinderspiel verglichen mit Behelfschirurgie mit einem Wasserglas und der Tatsache, dass ich ein drei Zentner schweres Bett durchs Zimmer geschoben und dabei einen halben Liter Blut verloren habe. Der Mercedes ist ein gutes Auto, und die Einfahrt ist schnurgerade. Ich tuckere mit zwanzig Stundenkilometern zur Route 117, und wenn ich zu schwach bin, zu Dakin’s Store zu fahren, wenn ich auf dem Highway bin, fahre ich einfach rechts ran, schalte den Warnblinker ein und hupe jedes Mal, wenn ich jemanden kommen sehe. Das müsste eigentlich hinhauen, zumal die Straße auf zwei Kilometern in beide Richtungen flach und einsichtig ist. Das Gute am Auto sind die Schlösser. Wenn ich drinnen bin, kann ich die Türen abschließen. Dann kann es nicht rein.
    Es, versuchte Ruth zu spötteln, aber Jessie fand, sie hörte sich ängstlich an – ja, sogar sie.
    Ganz recht, erwiderte sie. Du hast mir schließlich immer gesagt, ich sollte öfter den Kopf ausschalten und mehr auf mein Herz hören, oder nicht? Klar doch. Und weißt du, was mein Herz im Augenblick sagt, Ruth? Es sagt, der Mercedes ist meine einzige Chance. Und wenn du darüber lachen willst, nur zu … aber ich habe mich entschieden.
    Ruth wollte offenbar nicht lachen. Ruth war verstummt.
    Gerald hat mir vor dem Aussteigen die Autoschlüssel gegeben, damit er auf den Rücksitz greifen und seine Aktentasche holen konnte. Das hat er doch, oder nicht? Bitte, lieber Gott, sieh zu, dass mich mein Gedächtnis nicht trügt.
    Jessie steckte die Hand in die linke Rocktasche und fand nur ein paar Kleenex. Sie streckte die rechte Hand nach unten, drückte behutsam von außen auf die Tasche und stieß einen Stoßseufzer der Erleichterung aus, als sie den vertrauten Umriss des Schlüssels samt Anhänger spürte, den Gerald ihr zum letzten Geburtstag geschenkt hatte. Die Inschrift auf dem Schlüsselanhänger lautete You sexy thing. Jessie überlegte sich, dass sie sich in ihrem ganzen Leben noch nicht weniger sexy und mehr wie ein Ding gefühlt hatte, aber das machte nichts; damit konnte man leben. Der Schlüssel war ihre Fahrkarte weg von diesem grässlichen Ort.
    Ihre Tennisschuhe standen nebeneinander unter dem Telefontisch, aber Jessie entschied, dass sie so vollständig angezogen war, wie sie nur sein wollte. Sie setzte sich langsam in Richtung Dielentür in Bewegung und machte winzige Invalidenschritte. Unterwegs erinnerte sie sich daran, das Telefon in der Diele zu benutzen, bevor sie hinausging – schaden konnte es nicht.
    Sie hatte kaum das Kopfteil des Bettes hinter sich gelassen, als das Licht wieder aus dem Tag ausströmte. Es war, als wären die fetten hellen Sonnenstrahlen, die durch die westlichen Fenster hereinfielen, an einen Dimmer angeschlossen, den gerade jemand herunterdrehte. Als sie trüber wurden, verschwand der Diamantstaub, der darin tanzte.
    O nein, nicht jetzt, flehte sie. Bitte, das muss ein Witz sein. Aber das Licht wurde immer düsterer, und Jessie merkte plötzlich, dass sie wieder schwankte und ihr Oberkörper immer ausgreifendere Kreise in der Luft machte. Sie tastete nach dem Bettpfosten, bekam stattdessen aber die blutige Handschelle zu fassen, aus der sie erst vor so kurzer Zeit entkommen war.
    20. Juli 1963, dachte sie zusammenhanglos. 17.42 Uhr. Totale Sonnenfinsternis. Can I get a witness?
    Der Geruch von Schweiß, Samen und dem Rasierwasser ihres Vaters drang ihr in die Nase. Sie wollte würgen, war aber plötzlich zu schwach dazu. Sie brachte noch zwei torkelnde Schritte zustande, dann kippte sie vornüber auf die blutgetränkte Matratze. Ihre Augen waren offen und blinzelten ab und zu, aber ansonsten war sie so reglos wie eine Frau, die ertrunken an einen verlassenen Strand gespült worden ist.

34
     
     
     
    Der erste Gedanke, der sich wieder einstellte, war der, dass die Dunkelheit bedeutete, sie war tot.
    Ihr zweiter Gedanke war, wenn sie tot wäre, würde sich ihre rechte Hand nicht anfühlen, als wäre sie erst mit Napalm bombardiert und dann mit Rasierklingen geschält worden. Der dritte war die erschreckende Erkenntnis, wenn es dunkel war und sie die Augen offen hatte – was der Fall zu sein schien -, musste die Sonne untergegangen sein. Das riss sie hastig aus dem Niemandsland, wo sie gelegen hatte – nicht völlige Bewusstlosigkeit, aber eine tiefe Postschockträgheit. Zuerst konnte sie sich nicht erinnern, weshalb der Gedanke an den Sonnenuntergang so furchterregend sein

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