Das Spiel
vor dem samtigen Dunkellila des Himmels —, wusste sie, dass er offen war. Sie fühlte ihn als ein gähnendes Loch in der Nacht, von tieferem Schwarz als alles, was sie sah. Schlimmer noch: Sie fühlte, dass etwas in dieser Finsternis lauerte.
Willenlos, als lenkte sie ein Gott, tappte sie mit bloßen Füßen weiter über den groben Sand. Die Pflastersteine ihrer Straße, die fast so alt war wie Xis selbst, waren schon vor langer Zeit in dem Sand untergegangen, der alles eroberte, und sooft die Frauen der Katzenaugenstraße sie auch einst freigefegt haben mochten, würden sie jetzt doch für immer verschwunden bleiben. Es hieß, die Keller der ältesten Häuser hätten Türen, die damals, als die Pflastersteine noch sichtbar waren, auf die Straße hinausgeführt hatten. Jetzt ließen sich diese Türen nicht mehr öffnen und hätten auch nur den Sand der Jahrhunderte hereingelassen.
Qinnitan fühlte den Brunnen vor sich, noch ehe sie ihn sah, den hüfthohen Steinring, in der Mitte hohl wie ein Wundkrater. Sie glaubte zu hören, wie in der Tiefe etwas sachte das Wasser bewegte.
Sie beugte sich vor, obwohl sie nicht wollte, obwohl ihre sämtlichen Sinne schrien, sie müsse sich auf der Stelle ins Haus und in die Geborgenheit ihrer schlafenden Familie zurückflüchten. Doch sie beugte sich immer weiter vor, bis ihr Gesicht über dem unsichtbaren Brunnenschacht schwebte und die leisen Geräusche direkt an ihr Ohr drangen — etwas regte sich verhalten,
plisch, plasch, plisch,
dort unten in der Finsternis.
War es eine jener abscheulichen achtbeinigen Kreaturen, die sie auf dem Markt gesehen hatte, eine Art Meeresspinne mit Beinen, so glitschig und schlaff wie Nudeln? Wie aber sollte ein solches Wesen in den Brunnen gelangt sein? Was es auch sein mochte, irgendwo dort unten fühlte und hörte sie seine nichtmenschliche Präsenz.
Jetzt spürte sie, wie es sich in Bewegung setzte. Wie es emporstieg. Wie es mit seiner nichtmenschlichen Kraft und Geduld die glatte, feuchtkalte Brunnenwand hinaufkletterte, geradewegs dorthin, wo sie wie versteinert über dem Schacht lehnte. Sie fühlte das Wesen auch in ihrem Kopf — als kalte Gedanken und fremdartige Wünsche, verschwommen und doch so unleugbar wie Finger, die sich um ihren Hals spannten. Es kletterte so unbeirrt auf sie zu, als hätte sie es gerufen.
»Briony! Hilf mir!«
Erst dachte sie erschrocken, die Stimme käme von dem Wesen im Brunnen, doch sie klang wie die eines Menschen — eines jungen Mannes, der genauso schreckliche Angst hatte wie sie selbst. Rief da jemand nach ihr? Aber warum nannte er sie bei diesem Namen, den sie gar nicht kannte?
Das Ding im Brunnen verlangsamte seine klebrigen Kletterschritte nicht. Qinnitan wollte schreien, doch ihr versagte die Stimme. Sie versuchte es erneut, doch der Schrei staute sich nur immer weiter in ihr auf, bis sie glaubte, sie müsse jeden Moment bersten wie ein überlasteter Damm.
»Briony! Hier bin ich!«
Sie konnte ihn fühlen, als stünde er auf der anderen Seite des Brunnens — konnte ihn fast sehen, einen bleichen Jungen, das Haar so feuerrot wie die Strähne in ihren dunklen Locken. Er starrte sie an, ohne sie zu sehen, mit verstörtem Blick ...
»Briony!«
Sie war wie gelähmt vor Angst. Die feuchten Finger des Wesens krümmten sich über den Brunnenrand — sah es der Junge denn nicht? Sie wollte wissen, warum er sie mit diesem fremden Namen rief, doch als ihr die Stimme endlich gehorchte, hörte sie sich fragen: »Was machst du in meinen Träumen?«
Dann barst die Finsternis aus der Tiefe empor, und der Junge wurde davongeweht wie Rauch, und jetzt endlich löste sich der Schrei aus ihrer Kehle, schmerzhaft rau ...
Qinnitan schreckte hoch und schnappte nach Luft. Etwas hielt sie gepackt. Einen Augenblick kämpfte sie vergebens dagegen an, bis sie erkannte, dass es nicht riesig und kalt, sondern klein und warm war ... und verängstigt. Es war Spatz, der sie umschlang. Erschrocken und entsetzt grunzend, versuchte er,
sie
zu beruhigen.
»Hab keine Angst«, sagte sie leise. Sie fand im Dunkeln seinen Kopf und strich ihm übers Haar. Wie das Äffchen eines Straßenmusikanten klammerte er sich an ihr fest. »Ich habe nur schlecht geträumt. Hast du dich gefürchtet? Hast du mich gerufen?«
Aber er hätte sie ja gar nicht rufen können — nicht mit Worten. Auch jene Stimme war also Teil des Traums gewesen.
Briony.
Was für ein seltsamer Name. Und was für ein grässlicher Traum — so quälend wie ihre
Weitere Kostenlose Bücher