Das Spiel
Delirien nachts im Frauenpalast, wenn ihr der Priester Panhyssir jenes schreckliche Elixir verabreicht hatte, das Sonnenblut, ein Gift, das sie fiebern und um ihren Verstand fürchten ließ.
Die Erinnerung machte Qinnitan schaudern. Spatz war schon wieder eingeschlafen, den knochigen kleinen Körper gegen ihren gepresst, sodass sie den Arm, der bereits zu schmerzen begann, nicht senken konnte. Wie hatte sie nur glauben können, dass der Autarch sie einfach so gehen lassen würde? Es war töricht, hier in Hierosol zu bleiben, wo sie nur ein schmaler Streifen Meer von Xis trennte. Besser, sie packte gleich morgen früh ihre Sachen zusammen und ließ die Zitadelle und die Waschküchen hinter sich.
Wie sie so grübelnd im Dunkeln lag, den Jungen in den Armen, hörte sie Ächzen und Heulen: Draußen frischte der Wind auf.
Sturm,
dachte sie.
Südwind. Wie nennen sie ihn hier? »Rotwind« — Wind aus Xand. Aus Xis ...
Sie löste sich behutsam von Spatz und drehte sich weg. Sein Atem wurde rasch wieder leiser und so gleichmäßig wie das besänftigende Summen der heiligen Bienen. Qinnitan aber fand nicht so leicht Ruhe.
Wind treibt Schiffe,
dachte sie. Mit einem Mal schien ihr der Schlaf weiter weg als der südliche Kontinent.
Sie erhob sich und tappte über den kalten Steinboden in den Hauptraum, versuchte, die Atemgeräusche der schlafenden Frauen als Zeichen zu nehmen, dass alles in Ordnung war und nur das Nachtdunkel die Dinge so seltsam erscheinen ließ. Sie trat an eines der Fenster und hob den schweren Holzschieber an, weil sie ein wenig Mondlicht oder sich im Wind biegende Bäume sehen wollte — irgendetwas beruhigend Gewöhnliches. Obgleich um sie herum alles zu sein schien wie immer, machte sie sich darauf gefasst, draußen die Katzenaugenstraße und den offenen Brunnen vorzufinden, und war erleichtert, die hohen Fassaden der Echopromenade zu sehen. Doch da bewegte sich etwas auf der ansonsten leeren Straße — eine männliche Gestalt in einem langen Gewand, die sich gelassen, aber rasch im Schutz des Säulengangs entfernte. Das konnte einfach nur einer der zahllosen Bediensteten der Zitadelle auf seinem späten Heimweg sein oder aber jemand, der die Vorderfront des Schlafhauses beobachtet hatte.
Qinnitan hielt den Atem an, als könnte die Gestalt sie noch in hundert Schritten Entfernung hören, ließ den Schieber wieder herab und eilte leise durchs Dunkel zu ihrem Schlafplatz zurück.
Bisweilen kam Pinnimon Vash der große Thronsaal von Xis so vertraut vor wie das Haus im Tempelbezirk, in dem er seine Kindheit verbracht hatte (ein stattliches, aber keineswegs riesiges Gebäude, für die Dienerschaft die Verkörperung traumhaften Reichtums, aber doch nur eine von vielen Residenzen der vornehmen Sippe der Vashs). Der Thronsaal war schließlich die Arbeitsstätte des Obersten Ministers; kein Wunder, wenn er da die Größe und Pracht zuweilen gar nicht mehr wahrnahm. Doch in manchen Augenblicken wurde ihm wieder bewusst, wo er sich befand: in einem Raum von den Ausmaßen eines kleinen Dorfes, wo sich die schwarzweißen Fliesen in geometrischer Vollkommenheit über Hunderte von Metern erstreckten und einen schwindelig machten, wenn man länger hinschaute, und das Deckengewölbe mit den Kachelmosaiken der xixischen Götter so weit schien wie der Himmel selbst. Ein solcher Augenblick war jetzt.
Die Halle war voller Menschen. Es schien, als wäre so ziemlich jeder am Hof gekommen, um der Zeremonie des Abschiednehmens beizuwohnen — selbst der zuckende Prusus, der seine Gemächer im Allgemeinen nur verließ, wenn ihn Sulepis zu sich beorderte, und dem Pinnimon Vash nun, was so gut wie noch nie vorgekommen war, zum zweiten Mal innerhalb eines Tages begegnete. Mit einer gewissen Erleichterung hatte Vash festgestellt, dass man den Scotarchen, den offiziellen Thronfolger, in ein geziemend prächtiges Gewand gekleidet hatte, das zu dunkel war, als dass man den Speichel, der ihm gelegentlich vom Kinn troff, darauf hätte sehen können.
Zum ersten Mal seit der Krönung des Autarchen war das gigantische Geviert wieder so überfüllt, dass Vash das Fliesenmuster des Fußbodens nicht sehen konnte. Alle Anwesenden waren wie für ein rauschendes Fest gekleidet, hatten aber einen großen Teil des Vormittags damit verbracht, schweigend dazustehen, während Priester und Beamte auf dem Weg zu ihren angestammten Plätzen vor dem Falkenthron an ihnen vorbeidefilierten, Dutzende und Aberdutzende von Funktionsträgern und
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