Das Spiel der Nachtigall
jeder von ihnen schien Angst zu haben, für ihn zu sprechen, könne ihn selbst verdächtig machen. Ihre eigenen Freunde und Patienten verstanden genauso wenig wie die Pfalzgräfin, warum sie nicht mit Abscheu erfüllt war und auf Gilles’ Tod hoffte.
Auch das Begräbnis des toten Robert innerhalb der Stadtmauern erwies sich als schwer, doch immerhin konnte sie beweisen, dass das Gesetz auf ihrer Seite stand: Robert war nicht hingerichtet worden, und er hatte sich auch nicht selbst umgebracht.
»Er ist ohne Beichte und im Zustand der Sünde gestorben«, sagte der Priester, den sie immerhin dazu gebracht hatte, den Toten zu seinem Grab zu begleiten.
»Das trifft auf die meisten Kriegsknechte zu«, sagte Judith. Der Priester nickte, warf ihr aber einen schrägen Blick zu.
»Wie steht es um Eure eigene Seele, meine Tochter?«
»Ich bin Jüdin«, sagte sie.
»Und trotzdem wünscht Ihr Euch den Segen der Kirche für jenen Toten? Nun, das spricht für Euch.« Er erklärte sich auch bereit, Gilles die Beichte abzunehmen, aber für ihn sprechen wollte er nicht. Der Rabbi, der Judiths Buch gekauft und ihr das Haus besorgt hatte, war nicht minder unwillig und machte ihr sogar zum Vorwurf, dass er ihr Bürge in der Stadt gewesen war. Er hätte bei seinen Glaubensbrüdern schon genug Ärger gehabt, weil sie eine Abtrünnige vom wahren Glauben sei; ohne Taufe habe sie Gilles schließlich nicht heiraten können. »Habt Ihr Euch ihm verweigert?«, wollte der Rabbi wissen. »Ist das der Grund für seinen Sündenfall? Versucht Ihr deswegen, ihn zu retten?«
»Nein«, gab Judith heftig zurück und fragte sich, ob sie nicht hätte lügen sollen. Vielleicht würde jedermann die Sache gnädiger sehen, wenn sie Gilles bemitleideten als einen Mann, dessen Gattin ihre ehelichen Pflichten verweigerte? Doch nein, jeder Dummkopf konnte sich ausrechnen, dass Gilles in diesem Fall zu anderen Frauen getrieben worden wäre.
Sie fragte sich auch, ob er Robert geliebt hatte. Es kam ihr eigenartig vor, dass ihr nicht einmal in den Sinn gekommen war, dass er sein Leben als ihr Gatte nicht keusch wie ein Mönch verbringen würde. Aber sie war nie neugierig gewesen; er hatte Robert einen alten Freund genannt, und sie hatte sich nie gefragt, ob er auch nur »Freund« meinte. Ständig mit sich und ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt gewesen zu sein, war ein weiterer Beweis ihrer Selbstsucht, und sie schämte sich. Hatte sie wirklich geglaubt, dass Gilles damit zufrieden war, sein Leben an ihrer Seite ohne Liebe zu verbringen?
Judith kam gerade von einem weiteren vergeblichen Versuch zurück, das Oberhaupt der Böttcherzunft als Fürsprecher zu gewinnen, dem sie bei seinem Rheuma geholfen hatte, als ihr der Bäcker zurief, ein Verrückter liefe durch die Straßen und frage alle Leute nach ihr. »Und nicht allein«, sagte er anzüglich. »Er hat noch einen anderen Mann bei sich.«
Judith hätte ihn umbringen können, aber dazu war keine Zeit. Wenn jemand sie so dringend suchte, dann hatte es gewiss mit Gilles zu tun, also beeilte sie sich, in ihr Heim zurückzukehren. Es kam ihr auch in den Sinn, dass der Pfalzgraf wissen wollte, warum sie noch nicht nach Hagenau aufgebrochen war, und nach ihr geschickt hatte. Womit sie auf keinen Fall gerechnet hatte, war der Anblick, der sich ihr bot: Walther von der Vogelweide, niedergeschlagen von einem Bewaffneten. Sein Begleiter, den sie nicht kannte, war drauf und dran, einen Streit mit der Wache anzufangen. Judith hatte nicht die Zeit, um nachzudenken.
»Vetter Walther!«, rief sie und stürzte neben dem Niedergeschlagenen auf die Knie. Zu den Kriegsknechten aufschauend, klagte sie: »Mein ehrenwerter Vetter kommt in der Stunde meiner Not, und Ihr behandelt ihn so? Ist es nicht genug, dass keiner Mitleid mit meinem Gemahl hat? Müsst Ihr nun auch meine Familie dafür bestrafen, dass sie mir beisteht?«
»Er hat behauptet, ein Ritter zu sein«, sagte einer der Soldaten, doch er klang unbehaglich. Judith brach in Tränen aus. Es fiel ihr nicht schwer, bei all dem, was in den letzten Tagen geschehen war, und sie schluchzte, so laut sie konnte, was das befriedigende Ergebnis hatte, dass die Männer schnell das Weite suchten. Walthers Freund stellte sich als Markwart vor und half ihr, den Bewusstlosen ins Haus zu schaffen. Dabei schaute er immer wieder schnell zu ihr, so dass sie sich fragte, was um alles in der Welt Walther über sie zu ihm gesagt haben mochte.
»Ihr seid doch die Magistra?« Sie
Weitere Kostenlose Bücher