Das Spiel der Nachtigall
darauf, dass seine Familie nicht erfahren dürfe, dass er noch am Leben sei, auf sich hatte, und tat sein Möglichstes, um nicht zu lachen. Eines fernen Tages, wenn er mit Judith in Frieden leben und von der Vergangenheit sprechen konnte, ohne alte Wunden aufzureißen, würde er sie necken, ob alle Männer, die ihr Anträge machten, Männer lieben mussten, und ob sie ihn deswegen so lange verschmäht hatte. Eines fernen Tages.
Als das grüne Dunkel des Waldes immer dichter um sie wurde und die Abenddämmerung sich auf den Spitzen der Bäume niederließ, begann Herr Gugliemo, unruhig zu werden. Walther dachte zunächst, das läge daran, dass sie vielleicht noch im Wald übernachten mussten, doch ihm lag anderes am Herzen. »Was ich über den Zaunk– … über den König geredet habe«, beschwor ihn der Ritter, »das bleibt unter uns, Herr Walther.«
»Das versteht sich, Herr Gugliemo. Doch Ihr seht mich überrascht. Ich hätte nicht gedacht, dass Ihr dem König eine lange Bleibe auf Sizilien zutraut.« Sein Freund Schweinspeunt tat es offensichtlich nicht.
Herr Gugliemo ließ seine Zügel von einer Hand in die andere gleiten, statt sie mit beiden Händen zu halten. »Er ist ein ungebärdiger Junge, aber es … es ist etwas an ihm. Er spricht hier jedes Kauderwelsch, das sie auf der Insel reden, sogar das Arabische. Es gibt ein paar Geschichten über ihn, nun – Ihr wisst, dass er am zweiten Weihnachtsfeiertag geboren wurde, während sein Vater hier auf der Insel den gesamten Adel umbrachte? Ich habe Knechte, die darauf schwören, dass er deswegen entweder der Antichrist ist oder der König aus den Geschichten, der König, der war, und der König, der sein wird und sein Volk erlöst. Abergläubisches Geschwätz, versteht sich, aber ich will nicht von hier vertrieben werden. Das eine missglückte Abenteuer in Byzanz genügt mir völlig.«
»Euer Geheimnis ist bei mir sicher.«
Eine Weile ritten sie schweigend weiter, dann war es Walther, der sein Pferd zügelte. »Nachtigallen«, flüsterte er begeistert, denn er hatte schon eine ganze Weile keine mehr gehört. Herr Gugliemo machte eine Miene, als wolle er »ja und?« fragen, doch zeigte sich verständig genug, um mit Walther zu lauschen. Es ist eigentlich ein Wunder, dachte Walther, dass ein so kleiner Vogel eine so süße, durchdringende Melodie aus seinem Körper zaubern kann.
Ein hässliches Krächzen ertönte, und der Gesang der Nachtigall verstummte. Walther dachte zunächst, es müsse sich um eine Eule handeln, aber dann sah er im Unterholz zwei Jungen in dem Lederwams und grünem Rock von Knappen stehen. Einer von ihnen hatte den Kopf zurückgelegt und gab noch einmal den misstönenden Laut von sich. Dann sagte er mit einem Grinsen in der Volgare: »Ich habe dir gesagt, dass ich es kann, Taddeo.«
»Was für eine stolze Leistung«, rief Walther ihm verärgert zu, denn er hätte der Nachtigall wirklich gerne weiter zugehört. »Etwas Schönem ein Ende machen, das kann jeder. Lerne erst einmal, selbst ein gutes Lied zu verfassen, dann kannst du etwas, das dir das Recht gibt, eine Nachtigall zu unterbrechen.«
Gugliemo fing an zu husten. Der Junge zog eine Augenbraue hoch. »Ich kann auch Kraniche, Reiher und Gänse nachahmen«, sagte er. »So gut, dass neulich ein Schwarm nahe genug herankam, um nach ihrem Artgenossen zu suchen.«
»Nun, die Gänse kann ich verstehen«, sagte Walther nun mit einem Lächeln. Schließlich würde es andere Nachtigallen geben; außerdem konnte er sich noch gut erinnern, wie er und Markwart in diesem Alter durch ihre heimatlichen Berge gestrolcht waren. »Vielleicht haben sie ihr Leittier vermisst. Heißt es nicht, dass nur das Leittier eines Schwarms den Weg kennt?«
Der Ritter Gugliemo hustete inzwischen so heftig, dass man meinen konnte, er ersticke. Walther fragte sich, ob er ihm auf den Rücken klopfen sollte.
»Das behauptet Aristoteles«, entgegnete der Junge lebhaft, »doch er irrt sich. Ich habe Vogelschwärme beobachtet: Sie wechseln das Leittier, wenn es müde wird, und das wäre unmöglich, wenn es nur einen Führungsvogel gäbe oder wenn nicht alle Vögel wüssten, wohin der Schwarm unterwegs ist.«
Walther hatte Aristoteles nicht gelesen; griechische Philosophen gehörten nicht zu den Autoren, die ihm am Herzen lagen, als er erst einmal Zugang zu Bibliotheken hatte. Aber er wusste, dass Aristoteles nicht irgendein Philosoph war, sondern den meisten Gelehrten als der größte von allen galt, und fand sich
Weitere Kostenlose Bücher