Das Spiel des Alchimisten: Historischer Roman (German Edition)
aufrechtzuerhalten.
»Willst du hier stehen bleiben, wo dir die Kinder der Pfahlbürger die Räder von der Kutsche stehlen?«
»Das wagen sie nicht. Es ist die Kutsche des Bischofs.«
Ich sah ihn an und lächelte, woraufhin er den Kopf hängen ließ. Ich hatte mehr kindischen Widerstand erwartet, doch hatten die Tätigkeiten am Nachmittag und die Aufgabe, die Kutsche wieder zu lenken, ihn offenbar zwischenzeitlich in die Realität zurückgeholt. Es mochte auch die Tatsache sein, dass sich jemand intensiv mit ihm befasste, die Licht in sein Gehirnhatte eindringen lassen. Das Resultat war in jedem Fall: Er benahm sich überraschend vernünftig.
»Aber da gehen doch die Geister um«, sagte er.
Nun, so vernünftig, wie man es erwarten durfte.
»Die stehlen dir wenigstens nichts.«
Er zog die Augenbrauen hoch und schenkte mir ein Sehr-witzig!-Augenrollen. Wenigstens trieb er das Kutschpferd wieder an.
Das Gräberfeld erstreckte sich vor uns in die beginnende Nacht – die zerstörten Überreste einer Stadt der Toten, in der die lebendigen Eroberer allzu gründlich gehaust hatten. Der erste Eindruck war der eines merkwürdig struppigen Waldes: hohes Gebüsch, Erlen, Hainbuchen, Holunder, Brombeersträucher, zwischen denen sich hie und da eine Weide erhob. Die Ruinen der alten Gräber lagen kaum sichtbar darunter, geborstene Säulen und einsam aufrecht stehende Gebäudeecken. Zu Zeiten der römischen Kaiser hatten die Menschen ihren Verstorbenen kleine Häuser gebaut und ihren Seelen, die sie im Schattenreich des Hades glaubten, mehrfach im Jahr Opfergaben gebracht. Die Römer waren fortgezogen, die Geister der Verstorbenen mochten noch da sein, hungrig von den Jahrhunderten, in denen sie vergeblich auf das Opfermahl gewartet hatten. Etwas raschelte in den Erlen, und an einer anderen Stelle schwang sich ein Schwärm kleiner Dämmerungsvögel empor und stob flügelschlagend davon. Ich zwang mich, nicht wie der alte Albert dreimal das Kreuz zu schlagen. Aus der Pfahlsiedlung hinter uns drang das Gezänk zweier Stimmen, Lachen und Kinderweinen, aus den Ruinen vor uns erhob sich keinerlei menschlicher Laut.
Von Hilarius Wilhelm war keine Spur zu sehen. Von dem, was er mir hier zeigen wollte, ebenfalls nicht.
»Gehen wir's noch mal durch«, sagte ich zu Albert.
»Ich bleibe bei der Kutsche, was auch geschieht.«
»Auch, wenn ich mich dort drin ein bisschen umsehen muss.«
»Das ist keine gute Idee, Bub.«
»So haben wir's besprochen. Der Bischof würde es sich ebenfalls so wünschen.«
Er versuchte das wüste Stück Land vor uns mit finsteren Blicken zu durchdringen.
»Wenn ich nicht zurückkomme ...«
»... warte ich bis zum Läuten der Matutin und fahre dann zum Bischofspalast zurück.« Er nickte befriedigt. »Und schreie im Fronhof Zeter und Mordio.«
Ich hatte gewusst, dass wenigstens dieser Teil ihm gefallen würde. Er kratzte sich an der Lederhaube und verzog dann den Mund. »Ziemlich lange Zeit, bis zur Matutin. Ein paar Stunden. Ich glaube, ich werde schon eher ...«
»Du wirst genau das tun, was wir vereinbart haben. Was ist mit dem Pferd?«
»Das lasse ich hier, damit du mich rechtzeitig einholen kannst, falls wir uns nur um ein Weniges verpassen.«
»Genau.«
»Wenn du nicht zurückkommst, gehe ich dich suchen«, erklärte er starrsinnig. Ich schloss die Augen und atmete tief aus.
»Du musst auf die Kutsche aufpassen, Albert.«
»Die Pferde können aufpassen. Die Biester tun sowieso, was sie wollen.«
»Eben. Sagtest du nicht selbst, den Pferden kann man nicht vertrauen?«
»Aber mir kannst du vertrauen. Und zwar darauf, dass ich nicht ohne dich hier wegfahre.«
»Albert, wir haben das doch ein Dutzend Mal besprochen...«
»Wenn du nicht zurückkommst, gehe ich dich suchen.« Er schüttelte sich angesichts der Aussicht, allein und bei Nacht in das Gräberfeld einzudringen, doch war er hartnäckig dazu entschlossen. Es hatte keinen Sinn, ihn umstimmen zu wollen. Wir hatten das Thema tatsächlich ein Dutzend Mal diskutiert, mit dem gleichen Ergebnis wie jetzt.
»Also schön«, sagte ich, »aber ich brauche vielleicht viel Zeit. Du kommst auf keinen Fall vor dem Matutin-Läuten nach, verstanden?«
Jetzt war es gut eine Stunde nach der Vesper. Bis zur Matutin verschaffte mir das fast neun Stunden. Ich konnte mir nichts vorstellen, das mich so lange aufhalten könnte. Bewusst hatte ich den Zeitpunkt, an dem Albert in Aktion treten würde, so spät gewählt. Zudem ging ich davon aus, dass der
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