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Das Spiel

Das Spiel

Titel: Das Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brad Meltzer
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die Tiefe.
    »Merkst du das auch?« Viv deutet auf ihre Ohren.
    Es knackt in meinen Ohren, und ich nicke. Dann schlucke ich, und sie knacken wieder, heftiger diesmal.
    Wir sind schon länger als drei Minuten unterwegs und fahren mit unverminderter Geschwindigkeit weiter. Das wird mit Sicherheit die längste Fahrstuhlfahrt meines Lebens. Rechts von mir sausen die Stollenöffnungen in regelmäßigen Abständen vorbei, bis wir plötzlich langsamer werden.
    »Sind wir da?« Viv schaut mich an. Ihre Grubenlampe leuchtet mir ins Gesicht.
    »Scheint so.« Ich drehe mich zu ihr um und blende sie versehentlich ebenfalls. Es dauert ein bißchen, bis wir merken, daß wir nur miteinander reden können, wenn wir die Köpfe abwenden. Einige Leute im Capitol tun das ganz bewußt, aber für mich ist es, als trüge ich eine Augenbinde. Gefühle fangen in den Augen an. Vielleicht will Viv mich ja deshalb nicht ansehen.
    »Wie sieht es mit der Luft aus?« frage ich, als sie auf ihren Sauerstoffdetektor blickt.
    »Normal sind einundzwanzig Prozent, und wir liegen bei zwanzig Komma vier«, erwidert sie und studiert die Instruktionen auf der Rückseite. Sie bemüht sich, ihre Angst zu verbergen, doch ihre Stimme bebt. Ich schaue auf ihre Hände, ob sie auch zittern. Sie hat sich abgewandt, so daß ich sie nicht sehen kann. »Hier steht, bei sechzehn Prozent kann man noch normal atmen, und bei neun Prozent wird man ohnmächtig. Bei sechs Prozent verabschiedet man sich.«
    »Wir sind bei zwanzig Komma vier?« Ich versuche sie zu beruhigen.
    »Oben waren wir noch bei zwanzig-neun«, kontert sie.
    Der Fahrkorb kommt mit einem Rucken zum Stehen. »Käfig hält?« fragt die Frau durch die Gegensprechanlage-
    »Käfig hält.« Ich drücke den roten Knopf und wische meine Daumen am Werkzeuggürtel sauber.
    Ich blicke durch das metallene Sicherheitsgitter zur Decke. Das flackernde Licht meiner Lampe fällt auf ein orangefarbenes Schild, das an zwei Drähten hängt. 4850 Fuß.
    »Die wollen uns wohl auf den Arm nehmen«, murmelt Viv. »Wir haben erst die Hälfte geschafft?«
    Ich drücke den Knopf der Gegensprechanlage und beuge mich zum Mikrofon hinunter. »Hallo ... ?«
    »Was gibt's?« kläfft die Frau in der Zentrale zurück.
    »Wir wollten bis in achttausend ...«
    »Gehen Sie durch den Quertunnel. Dahinter sehen Sie Winze Nummer sechs. Der Fahrkorb wartet da auf Sie.«
    »Was ist denn mit dem hier los?«
    »Er reicht nur für 4850 Fuß. Wollen Sie tiefer fahren, müssen Sie den anderen nehmen.«
    »War das beim letzten Mal auch schon so?« Ich bluffe. Vielleicht haben sie es ja geändert.
    »Sohn, falls Sie nicht schon um die Jahrhundertwende zum 19. Jahrhundert hier herumkutschiert sind, hat es sich nicht geändert. Heutzutage gibt es Kabel, die einen Korb sogar bis zehntausend Fuß Tiefe halten. Damals hielten sie nur fünftausend Fuß tief. Also, steigen Sie aus, gehen Sie durch den Tunnel, und sagen Sie mir, wenn Sie drin sind.«
    Ich öffne das Sicherheitsgitter, das sich nach oben wegrollt. Das Wasser bildet einen Vorhang, der uns daran hindert hinauszusehen. Ich trete durch den Wasserfall und fühle, wie das eiskalte Wasser meinen Rücken hinunterläuft. Jetzt befinde ich mich in der Mine. Der Boden, die Wände und die Decke bestehen aus braunem Lehm. Wie in einer Höhle, sage ich mir, während ich knöcheltief in einer Schlammpfütze stehe. Auch hier erstrecken sich zu beiden Seiten des Stollens lange Bänke. Sie sehen genauso aus wie die oben, nur daß jemand eine amerikanische Fahne auf ihre Rückenlehnen gesprayt hat. Sie sind der einzige Farbklecks in dieser schmutzigbraunen Unterwelt. Während wir an der langen Bankreihe vorbeigehen, sehe ich fast die geisterhaften Schattenbilder Hunderter von Minenarbeitern, die mit hängenden Köpfen dasitzen, die Ellbogen auf die Knie gestützt, erschöpft von einer weiteren Schicht unter Tage.
    Denselben Ausdruck hatte auch mein Dad am Fünfzehnten jeden Monats, wenn er ausgerechnet hatte, wie viele Haarschnitte er noch brauchte, bis er die Hypothek zahlen konnte. Mom hat ihn immer gescholten, weil er kein Trinkgeld annahm. Er fand das in einer kleinen Stadt geschmacklos. Als ich zwölf war, gab er den Laden auf und zog in den Keller unseres Hauses um. Nur sein Gesichtsausdruck blieb gleich. Ich hatte es für Bedauern gehalten, weil er den ganzen Tag dort unten verbrachte. Das war es aber nicht. Es war Furcht, die man bei dem Gedanken empfindet, es am nächsten Tag wieder tun zu müssen. Ein

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