Das Südsee-Virus
doch, was er wollte: Abstand gewinnen zu der Konferenz, die ihm bevorstand. Am Ende der mit glitschigen Kopfsteinen bepflasterten Rua de São Pedro geriet er auf einen schmucklosen, eingerüsteten Platz. Die Parreirinha de Alfama, welche ihm im Hotel empfohlen worden war, befand sich hinter einer schmutzigblauen Plastikplane. Er schob die Plane beiseite und sah sich einer alten Frau gegenüber, die auf einem wackeligen Stuhl im Eingang hockte und eine Untertasse voller Münzen auf dem Schoß hielt. Dowie kramte in seinem Mantel, hielt der Frau einen Geldschein entgegen; die Frau zuckte mit den Schultern, er legte den Schein auf den Teller und ging hinein.
Der Laden war etwa zur Hälfte besetzt. Er schritt unter der gewölbten Decke zwischen den gedeckten Tischen hindurch und suchte sich einen Platz an der gekachelten Stirnwand. Hunger hatte er nicht, also bestellte er sich ein Glas Rotwein, was von dem Kellner, der ihm die Speisekarte sofort wieder entriss, recht missmutig zur Kenntnis genommen wurde. Dowie wunderte sich, dass von den Gästen kaum jemand Notiz von ihm nahm. Wie es aussah, war er der einzige Fremde in dieser merkwürdigen Kaschemme, in der auch in den folgenden zwei Stunden nichts darauf hindeutete, dass sich das Gewölbe mit den klassischen Klagelauten des Fado füllen würde.
Er war gerade im Begriff zu gehen, als zwei ältere Herren an der Säule vor ihm Platz nahmen. Der eine hielt eine portugiesische, der andere eine spanische Gitarre in Händen. Von der Bar näherte sich ein bulliger Mann im schwarzen Anzug, gesenkten Hauptes und mit gefalteten Händen. Er schloss die Augen und begann die einsetzende Musik zu inhalieren. Mit jedem Atemzug erhob sich sein Kopf ein weiteres Stück aus der Versenkung. Schließlich presste der Troubadour einen glockenhellen Ton hervor, der als herzzerreißende Klage im Klanggespinst der Instrumente verendete, um kurz darauf umso gewaltiger aufzuerstehen. Die massige Gestalt fest im Boden verwurzelt, verkündete der Sänger die Botschaft, dass wir Menschen niemals wirklich wach seien.
Mark Dowie fühlte sich mit einem Schlag für die Mühen entschädigt, die er heute Abend auf sich genommen hatte. Im Fado wird unsterbliche Wehmut gegen vergängliches Glück in die Schlacht geschickt. Um der Wehmut die besten Argumente an die Hand zu geben, bedienten sich die Fadistas bei den großen Dichtern des Landes. Dieser hier berief sich auf Texte von Fernando Pessoa. Noch bevor das letzte gesungene Wort verklungen war, begannen die Anwesenden zu klatschen. In den Tascas der Alfama war es üblich, dass die Zuhörer den Schluss eines Vortrages im Beifall ertränkten. Beim Abgesang reagierten die Portugiesen wie ein Schwarm tropischer Fische, der einen elektrischen Impuls pariert. Auf diese Weise webten sie den Liedern ihre Begeisterung an, wurden sie Teil ihrer Poesie.
Dowie bereute den kleinen Ausflug nicht. Im Gegenteil, er hatte sich mit Leben gefüllt und konnte dem morgendlichen Hickhack gestärkt entgegensehen. In seinem Job wusste man ja gar nicht mehr, was Leben war. Es war sechs Uhr, als er die Parreirinha de Alfama verließ. Draußen die Götterdämmerung. Die Fassaden der Stadt tankten die ersten Sonnenstrahlen, die sie zunächst türkis, dann rosa und schließlich weiß färbten. Seine Absätze hallten auf den elfenbeinfarbenen Mosaikbahnen der Baixa wider. Dies war das Reich der Calceteiros, der Steinsetzer, die den Lissabonnern Wellen, Delfine und Kalligrafien aus Blaubasalt in den Weg gehämmert hatten.
Auf einer Hauswand unterhalb des Castelo de São Jorge leuchtete weithin sichtbar ein hingesprühtes LUZBOA. Luz: Licht. Er machte es sich oben auf einer Bank vor der Burgmauer bequem und blickte beeindruckt auf den über zahlreiche Hügel geworfenen Häuserhaufen zu seinen Füßen, aus dem die aufkommenden Stadtgeräusche verdunsteten. Der Tejo führte nun Sonnenlicht im Überfluss, sodass die Gebäude sich mit scharfkantigen Schatten gegen die Blendung zur Wehr setzten. Drei Stunden saß er hier und saugte den Anblick wie eine kostbare Essenz in sich auf. Nebenan legte ein alter Mann zärtlich die Hand um die Schulter seiner Frau. Ein Zeichner zerknüllte ganz ohne Wut eine ungenügende Skizze nach der anderen. Zwei Gören stritten neckisch um ein Fernrohr.
Gegen neun Uhr suchte Dowie das Café »A Brasileira« auf, setzte sich neben die vom vielen Anfassen abgewetzte Bronzestatue Fernando Pessoas, bestellte einen Galão sowie zwei dieser herrlichen
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