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Das System

Das System

Titel: Das System Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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war, dann war seine Mutter eher wie eine Naturkatastrophe für ihn, hatte der Pfleger gesagt. Unberechenbar.
     Er hatte sicher manchmal Angst vor ihr gehabt, aber …
    »Noch fünf Sekunden!«
    »Badewanne!«, rief Mark.
    »Was?«
    »Gib das ein. Badewanne. Schnell!«
    Lisa tippte das Wort und drückte die Entertaste, gerade als die letzte Sekunde angezählt wurde.
    Der Warnhinweis verschwand, und ein neuer Text erschien in dem Fenster. »Du erinnerst dich natürlich noch an die Sitzung damals.
     Du warst ziemlich aufgeregt, weißt du noch? Dann erinnerst du dich bestimmt auch, wen ich am meisten hasse.«
    |274| »Deine Mutter«, tippte Lisa.
    »Nein, warte«, sagte Mark, als sie die Eingabe bestätigen wollte.
    Lisa wandte sich zu ihm um. »Warum? Du hast doch gesehen, was sie für ein Monster ist.«
    »Sie ist vielleicht ein Monster, aber sie ist trotzdem seine Mutter. Er wird sie vielleicht manchmal gehasst haben. Aber vergiss
     nicht, wie intelligent Rainer war. Er wusste sicher über ihre Krankheit Bescheid.«
    Lisa nickte. »Wer dann? Wen kann er so gehasst haben, dass er sicher war, ihn auch dann noch am meisten zu hassen, wenn Eva
     Weisenberg dieses Programm startet?«
    »Wen würdest du so hassen, wenn du Rainer wärst?«, fragte Mark. »Er war ein Aspie. Menschen haben ihm nie viel bedeutet. Es
     war schwer, Kontakt zu ihm zu knüpfen, und sicher auch schwer, ihn zu enttäuschen, denn er hatte ja keine Erwartungen an andere.
     Wenn ihn jemand schlecht behandelte, war das für ihn wahrscheinlich wie ein Hagelschauer – etwas, das man erduldet, woran
     man aber einfach nichts ändern kann. Man kann sich über schlechtes Wetter ärgern, aber man kann es nicht hassen.«
    »Okay. Aber wenn er von niemandem enttäuscht war, wen kann er dann gehasst haben, außer seiner Mutter, die ihn so misshandelt
     hat?«
    »Nehmen wir mal an, er wusste, dass seine Mutter krank war. Er hat deswegen eine schreckliche Kindheit gehabt, aber vielleicht
     hat er nicht ihr die Schuld gegeben …«
    Die Erkenntnis erhellte Lisas Gesicht. »… sondern seinem Vater!«, sagte sie. »Er hat die beiden verlassen und Rainer damit
     seinem Schicksal überlassen. Ja, ich glaube, das würde ich ihm auch nicht verzeihen.«
    »Deinen Vater«, tippte sie und drückte die Enter-Taste. Mark hielt den Atem an.
    Ein neuer Text erschien. »Sehr gut. Aber das war ja nicht schwierig. Die letzte Frage wird nicht ganz so einfach. Wir |275| haben nie darüber gesprochen. Aber als gute Psychologin wirst du auch dieses Rätsel lösen. Du weißt, ich habe mir nie viel
     aus anderen Menschen gemacht. Aber es gibt einen, der mir mehr bedeutet als alle anderen. Ich denke, man kann sagen, dass
     es der einzige Mensch ist, den ich liebe. Wenn ich zu so einem Gefühl überhaupt fähig bin. Kannst du dir denken, wer das ist?«
    »Deine Mutter«, tippte Lisa. Sie sah Mark fragend an. Er nickte.
    Lisa drückte die Enter-Taste.
    »Leider falsch«, kam die prompte Antwort. »Meine Mutter ist ein armes, krankes Geschöpf. Ich empfinde Mitleid für sie. Lieben
     kann ich sie nicht, nach allem, was sie mir angetan hat. Aber ich habe ja gesagt, die Frage ist nicht so leicht. Ich gebe
     dir noch eine Chance: Wer ist die Person, die mir am meisten von allen Menschen bedeutet?«
    Lisa sah Mark fragend an, doch er konnte auch nur mit den Schultern zucken.

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    68.
    Hamburg-Harburg,
    Mittwoch 18:22 Uhr
    »Ich«, sagte Weisenberg.
    Mark und Lisa drehten sich überrascht zu ihm um. »Wie bitte?«, fragte Lisa.
    »Schreiben Sie: ›ich‹.« Seine großen, klugen Augen waren glänzend geworden.
    »Sie glauben … er hat Ihre Frau geliebt?«
    Weisenberg nickte. »Sie haben sie nicht gekannt. Sie war das verständnisvollste, sanfteste, klügste Wesen, das ich je kennenlernen
     durfte.« Er schluckte. »Alle ihre Patienten haben sie geliebt. Wenn man sie kannte, dann … dann konnte man einfach gar nicht
     anders!«
    |276| Lisa wandte sich an Mark. »Was meinst du? Sollen wir es riskieren?«
    »Ich denke schon«, sagte er. »Immerhin stand das Bild von ihr auf seinem Nachttisch. Es war das einzige Foto eines Menschen
     dort. Und sie war es, der er die CD geschickt hat. Ja, ich glaube, er hat sie wirklich geliebt.«
    »Ich«, tippte Lisa und drückte die Eingabetaste.
    Der Bildschirm wurde schwarz. Eine kleine Leuchtanzeige am Laptop begann zu flackern, und man hörte das rhythmische Surren
     der Festplatte.
    »Mist! So ein verdammter Bockmist!« Lisa schlug mit der flachen

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