Das System
unerträglich. Er spürte, wie etwas in ihm zerbrach. Er hatte ihr schon vieles verziehen, und er selbst hatte ihr sicher
auch genug Grund gegeben, wütend auf ihn zu sein. Aber dass sie ihn des Mordes an seinem Freund verdächtigte – und sei es
auch nur eine Stichelei, nicht wirklich ernst gemeint, um sich für den gestrigen Streit zu rächen –, würde er ihr nicht verzeihen
können. Er blickte zu Boden und kämpfte gegen die wachsende Wut an. Eine Pause entstand.
»Ich geh dann mal«, sagte Julia nach einer langen Minute. »Wir können ja telefonieren.«
Mark sagte nichts. Immer noch um seine Fassung ringend, schloss er hinter ihr die Tür.
Drei Stunden später saß er reglos auf dem Sofa. Er hatte immer noch seine schwarze Ralph-Lauren-Windjacke an und den Autoschlüssel
in der Hand. Er starrte auf das große, abstrakte Gemälde an der Wand, das ein labyrinthartiges Gewirr von ineinander verschlungenen
Linien in düsteren Rot- und Blautönen zeigte. Julia hatte das Bild ausgesucht und über 2000 Euro dafür bezahlt. Mark hatte
es nie besonders gemocht, aber jetzt hatte es in seiner verwirrenden Geometrie eine beinahe hypnotische Wirkung. Die verknoteten
Linien erschienen ihm wie eine exakte Darstellung seiner eigenen Lebenssituation.
|54| Das war es also. Die schöne Zeit war vorbei. Seine Ehe kaputt, seine Firma am Ende, sein bester Freund tot. Innerhalb von
nur vierundzwanzig Stunden. Sein Magen krampfte sich zusammen.
Alles deutete darauf hin, dass ein Mitarbeiter der Firma Ludger umgebracht hatte. Doch das war vollkommen undenkbar. Er kannte
doch sein Team! Er konnte sich auf jeden Einzelnen von ihnen verlassen, da war er ganz sicher. Und was für ein Motiv hätte
jemand von D. I. haben sollen? Ludger hatte doch niemandem etwas getan.
War vielleicht er selbst das eigentliche Ziel gewesen, wie der Kommissar vermutet hatte? Hatte Ludger sterben müssen, nur
damit jemand Mark den Mord anhängen konnte? Ein schrecklicher Gedanke.
Er dachte an Lisa Hogert. Sie war eine äußerst talentierte Programmiererin gewesen, schlank, mit kurzen schwarzen Haaren,
hellwachen Augen und zarten Gesichtszügen, die jedoch häufig abweisend, fast arrogant wirkten. In ihrer Brillanz war sie nur
noch von D. I.s »Wunderkind« Rainer Erling übertroffen worden, und vielleicht von Ludger selbst. Aber sie hatte sich nie wirklich
gut in das Team eingefügt. Es hieß, sie habe eine Zeitlang als Punk auf der Straße gelebt und sei früher eine Crackerin gewesen,
die in die Computersysteme großer Firmen eingebrochen war. Nach Ludgers damaliger Überzeugung hatte sie diese Vergangenheit
aber hinter sich gelassen. Bis es dann zu dieser Diebstahlserie gekommen war. Vermutlich war Lisa drogenabhängig und hatte
dringend Geld gebraucht.
Wenn er darüber nachdachte, schien es ihm unwahrscheinlich, aber nicht völlig undenkbar, dass sie sich an ihm und der Firma
rächen wollte. Der Kommissar hatte von Sabotage an DINA gesprochen – vielleicht steckte tatsächlich Absicht hinter den seltsamen
Fehlern, die DINA gestern passiert waren. Ludger hatte immer einen enormen Aufwand betrieben, um das System gegen Angriffe
von außen abzuschirmen, aber Lisa war eine talentierte Hackerin und besaß |55| Insider-Kenntnisse. Außerdem verfügte sie ohne Zweifel über das technische Wissen, um die Daten der Schließanlage zu manipulieren,
und Ludger hätte sie vermutlich ohne Bedenken spätabends noch ins Büro gelassen.
Aber ein Mord aus Rache, weil sie gefeuert worden war? Drei Monate später? Und ausgerechnet an Ludger, der bis zuletzt Zweifel
an ihrer Schuld geäußert und sich für sie eingesetzt hatte? Nein, das erschien nicht sehr logisch.
Sosehr Mark sich auch das Hirn zermarterte, es war einfach unmöglich, sich einen Grund vorzustellen, der einen Mord an Ludger
erklärt hätte. Das alles ergab …
Es klingelte an der Haustür. Mark stand auf, froh, dass ihn etwas aus seiner Lethargie riss. Hoffnung keimte in ihm auf. Vielleicht
war Julia zurückgekommen, um sich zu entschuldigen? Aber Julia hatte einen Schlüssel.
Er hielt inne, als ihm plötzlich klar wurde, dass es nur die Polizei sein konnte. Kommissar Unger hatte ihn zwar vorhin gehen
lassen, aber er hatte ihm gesagt, er solle sich zur Verfügung halten. Jetzt kamen sie, um ihn zu holen.
Der Mörder hatte wahrscheinlich noch mehr Beweise manipuliert und das Netz um Mark so eng zusammengezogen, dass der Polizei
gar nichts
Weitere Kostenlose Bücher