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Das Tagebuch der Patricia White (German Edition)

Das Tagebuch der Patricia White (German Edition)

Titel: Das Tagebuch der Patricia White (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gian Carlo Ronelli
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ein entlaufener Irrer, der wegen der widrigen Wetterverhältnisse seine Flucht auf einen späteren Zeitpunkt verschoben hatte.
    Trotz ihres abschätzenden Blickes bemühte sie sich um Höflichkeit und wies mich nach einer kurzen Begrüßung darauf hin, dass die Besuchszeit vor dreißig Minuten abgelaufen war.
    »Ich will niemanden besuchen«, erklärte ich. »Mein Vater ist hier verstorben und ich hätte dazu ein paar Fragen.«
    Das Wort verstorben trieb der Dame einen Hauch von Mitgefühl ins Gesicht. »Das tut mir leid«, sagte sie und erkundigte sich nach dem Namen.
    »Eddie … « Ich stockte. » Edward Reynolds. «
    »Reynolds«, wiederholte sie und gab den Namen in den Computer ein. »Edward. Ja, hier haben wir ihn. Abteilung Sieben. Doktor Overlook. Sie haben Glück.« Sie lächelte. Immer noch mit einer Portion Mitgefühl. »Doktor Overlook hat heute Nachtdienst.«
    Ich bedankte mich für die Auskunft und erkundigte mich nach dem Weg. Sie blickte mich fragend an. Erst da wurde mir klar, dass ich den Weg kennen musste und ich fügte hinzu, dass ich einen Weg durch das Innere des Gebäudes gemeint hatte. »Der Regen«, sagte ich, obwohl ich überzeugt war, dass ich kaum noch nässer werden konnte.
    Die Frau nickte verständnisvoll und erklärte mir, wie ich in Abteilung Sieben kommen würde, ohne ins Freie zu müssen. Ich bedankte mich und trat meinen Weg an. Nach ein paar Schritten stoppte ich. Drehte mich noch einmal zu ihr um.
    »Ja?«, fragte sie.
    »Nichts.« Ich starrte sie ein paar Sekunden an. Diese blonden Locken, die das Gesicht umrandeten, wie ein geschwungener Bilderrahmen ein Gemälde. Die schmale Brille, schwarze Fassung mit roten Bügeln. Die grün schimmernden Augen, die frech über die Brille hinweg blitzen. Mit einem seltsamen Gefühl in der Magengegend wandte ich mich wieder um und ging weiter. Ich fühlte eine Mischung aus Schock und Freude. Für einen kurzen Augenblick hatte mein Gehirn mir signalisiert, dass ich diese Frau kannte. Und die Empfangshalle. Und den Steinboden aus rot melierten Platten. Ja. Ich war schon einmal hier gewesen. Soeben hatte ich meine erste Erinnerung seit dem Erwachen im Motel erlebt.
    War die Empfangshalle und der Gang zwischen Gebäude Eins und Zwei noch hell erle uchtet und trotz abgelaufener Besuchszeit mit Besuchern und Pflegern belebt, führten mich die Stufen nun in einen schwach beleuchteten und menschenleeren, unterirdischen Verbindungsgang. Roher Beton bildete Wände und Decke , und die Fliesen am Boden schienen sich im Laufe der Jahrzehnte aufgelöst zu haben. Streckenweise wirkten sie, als hätte man begonnen sie heraus zu schlagen, das Renovierungsprojekt dann aber auf einen späteren Zeitpunkt verschoben und schließlich vergessen, dass dieser Gang existierte.
    Er drehte sich in einem langen Bogen nach rechts, was mir den Eindruck vermittelte, ich würde, wenn ich lange genug lief, wieder am Ausgangspunkt ankommen. Vor allem bewirkte diese Biegung, dass ich nach kurzer Zeit die Orientierung verlor und sich mir hinten und vorne der gleiche Anblick bot. Neonröhren, die in regelmäßigen Abständen an der Decke montiert waren, verbunden mit Kabelsträngen, die wie Adern die innere, obere Seitenwand entlangliefen. Einige der Röhren flackerten und erfüllten den Gang mit einem Klacken, das durch den Hall unnatürlich laut wirkte. Dazu kam das Grollen des Donners, der wie ein tiefes Knurren klang, das von allen Seiten gleichzeitig zu kommen schien. Das Knurren eines Hundes.
    Oder eines Wolfes.
    Unwillkürlich beschleunigte ich meinen Schritt und verspürte den Drang zu laufen. Panik befiel mich . Obwohl ich niemanden sah, niemanden hörte und man sich nirgendwo verstecken konnte , war ich davon überzeugt, dass jemand bei mir war. Ganz nahe. Und so schnell ich mich auch fortbewegte: Er kam näher.
    Ich gab dem Drang nach und begann zu rennen. Der Hall meiner Schritte wurde von den glatten W ände n zurückgeworfen und schien sich Schritt für Schritt zu verstärken. Ich blickte im Lauf nach hinten, war sicher, einen Schatten gesehen zu haben. Meine Wunde im Oberschenkel begann zu brennen. Mein Bein sackte seitlich weg, ich stürzte, schlug hart auf dem Boden auf. Zeitgleich erloschen die Neonlampen. Ein greller Donner jagte durch den Ga ng.
    Dann war es still.
    Ich tastete neben mich, bis ich die Wand spürte. Sie fühlte sich warm an. Und nass. Vermutlich bildete ich es mir nur ein, aber in d ies em Augenblick war ich davon überzeugt, dass sie

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