Das Teufelslabyrinth
Pater Sebastian erhob sich aus dem Stuhl. »Es ist beinahe ein Uhr, und dieser Abend war nicht wirklich ein vergnüglicher. Du brauchst nur
ein Wort zu sagen, und ich bin weg und liege in einer halben Stunde in meinem Bett.«
»Und wenn ich den Spruch hören will?«, konterte Ryan.
Pater Sebastian verdrehte die Augen. »Okay, dann kriegst du die Kurzversion, und wenn du keine Fragen stellst, liege ich in vierzig Minuten in meinem Bett.«
Ryan musste unwillkürlich lachen, doch die stechenden Schmerzen in seiner Brust zwangen ihn dazu, das Lachen zu unterdrücken. »Okay dann«, sagte er. »Ich höre.«
Der Priester lächelte. »Da liegt einer, der Prügel bezogen hat, im Dunkeln da und denkt an die nächste Woche, richtig?«, begann er und sprach damit exakt Ryans Gedanken aus. Er nahm wieder auf dem Stuhl Platz. »Was ich dir eigentlich sagen will, ist, dass solche Dinge, die dir widerfahren sind, bei uns nicht passieren. Das lassen wir nicht zu. Wenn dir jemand auf der St. Isaac’s das Leben schwermachen könnte, dann die Nonnen, nicht die anderen Schüler. Und obwohl einige der Schwestern beinhart sein können, glaube ich nicht, dass sie dich mit Fußtritten traktieren werden.« Er zwinkerte Ryan verschwörerisch zu. »Aber nimm mich da bitte nicht beim Wort. Ich bin erst seit vergangenem Herbst an dieser Schule und auch nicht allwissend.«
»Tom Kelly kümmert es einen feuchten Kehricht, dass ich gestern Prügel bezogen habe«, entgegnete Ryan. »Er will mich nur aus dem Haus haben, damit er meine Mutter anbaggern kann.«
»Nach allem, was ich über Tom Kelly weiß, und das ist nicht sehr viel, wird er das wahrscheinlich tun, ob du nun da bist oder nicht«, meinte Pater Sebastian. »Andererseits ist es wirklich nicht so schlimm, dass er gewisse Gefühle für deine Mutter hat.«
»Das macht ihn immer noch nicht zu meinem Vater«, beharrte Ryan und hoffte, dass seine Worte in den Ohren des Priesters nicht so verdrossen klangen wie in den seinen.
»Niemand kann dir deinen Vater ersetzen«, erklärte Pater Sebastian. »Tom und deine Mom wollen doch nur das Beste für dich. Genau wie dein Vater, wenn er hier wäre. Und nach dieser scheußlichen Sache glauben sie, dass es für dich das Beste ist, die Dickinson High zu verlassen.«
Ryan schwieg und starrte zur Decke hoch.
»Die Entscheidung liegt selbstverständlich bei dir«, fuhr Pater Sebastian fort und legte Ryan die Hand auf die Schulter. »Wir jedenfalls tolerieren solche Dinge nicht, die du an der Dickinson durchmachst, und ich kann dir außerdem versichern, dass ein Diplom von der St. Isaac’s kein Nachteil ist, wenn du dich später an einem College bewirbst.«
Mit diesem Argument hatte er Ryans Aufmerksamkeit wiedergewonnen. Solange Ryan denken konnte, war er entschlossen, seinem Vater nach Princeton zu folgen. Doch Princeton konnte unter Tausenden von Absolventen mit einem Spitzenzeugnis und einem tadellosen Eignungstest wählen, und nach dem Ereignis von gestern konnte er es sich nicht mehr erlauben, noch weitere Tests zu vermasseln oder seine Zeit damit zu vergeuden, sich mit Typen wie Frankie und Konsorten auseinanderzusetzen.
»Hat einer von Ihren Schülern vor, nach Princeton zu gehen?«, erkundigte sich Ryan bemüht beiläufig, obwohl ihn die Antwort brennend interessierte.
»Ein paar«, meinte Pater Sebastian ebenso beiläufig. »Manche gehen auch nach Harvard oder auf die M.I.T. Die besten des Jahrgangs werden eigentlich überall aufgenommen, wo sie sich bewerben.« Ryan sagte darauf
nichts, doch Pater Sebastian war sich ziemlich sicher, dass die Botschaft, die Tom durch ihn hatte vermitteln wollen, bei Ryan angekommen war. »Denk einfach mal darüber nach, ja?«, sagte er und stand auf. »Und jetzt sieh zu, dass du noch eine Mütze Schlaf bekommst.«
Ryan nickte. Erst als Pater Sebastian die Tür öffnete, rief er leise: »He.«
Der Priester drehte sich noch einmal um.
»Danke für Ihren Besuch.«
Der Priester lächelte und ließ den Blick dabei durch das Krankenzimmer schweifen. »Du scheinst mir wirklich ein guter Junge zu sein«, sagte er. »Du hast was Besseres verdient. Denk drüber nach.«
Als die Tür leise ins Schloss gefallen war, machte Ryan das Licht aus und starrte im Dunkeln vor sich hin. Die letzten Nachwirkungen des Alptraums waren verschwunden, und er war sich sicher, dass sie ihn auch nicht wieder heimsuchen würden.
10
Im Schlafzimmer war es noch dunkel, als Anne Adamson plötzlich die Augen aufriss. Das fahle
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