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Das unerhörte Leben des Alex Woods oder warum das Universum keinen Plan hat: Roman (German Edition)

Das unerhörte Leben des Alex Woods oder warum das Universum keinen Plan hat: Roman (German Edition)

Titel: Das unerhörte Leben des Alex Woods oder warum das Universum keinen Plan hat: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gavin Extence
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viel komplizierter als irgendwelche Topfpflanzen.
    Die Anleitung, die mir Mr. Peterson diktierte, umfasste am Ende vierzehn Seiten, einzeilig in Times New Roman, Schriftgrad 12. Es waren Schritt-für-Schritt-Anweisungen, und sie beschrieben jedes Detail: von der Einsaat bis zur Trocknung, Haltbarmachung und Lagerung. Mit seiner dreißigjährigen Erfahrung betrachtete Mr. Peterson die Cannabiszucht als eine Kunst, aber diese Sichtweise teilte ich nicht. Für mich war es eine Wissenschaft. Und deshalb liebte ich es.
    Der Dachboden hatte die Atmosphäre eines Laboratoriums – dank der Lampen, der Seilzugsysteme und des konstanten Surrens des Ventilators. Eigentlich war es ja auch nichts anderes. Ein Labor, eine perfekte weiße Umgebung, wo alle Entwicklungen beobachtet und in eine Richtung gelenkt werden konnten, die zu einem bestimmten Ergebnis führte. Es gab Thermometer und Hygrometer, Waagen und Maßbänder. In einem Schrank standen Chemikalien, um dem Leitungswasser das Chlor zu entziehen, »Wurzelhormone« für die Ableger, stickstoff- und kaliumhaltige Dünger, Chemikalien, um den Säuregehalt der Erde zu regulieren, der sich idealerweise um einen pH-Wert von 6,5 bewegen sollte. Und das war nur eins der vielen technischen Details, die mich in den Bann schlugen. Ein weiteres war der Lichtzyklus, der Sommer und Herbst simulierte: achtzehn Stunden Licht pro Tag während der vierzehnwöchigen Wachstumsphase und dann zwölf Stunden pro Tag, um die Reproduktionsphase auszulösen und beizubehalten, was etwa acht Wochen dauerte. Allerdings stand für Mr. Petersons Pflanzen die Vermehrung nicht auf dem Programm. Sobald sich das Geschlecht der Pflanzen herausgebildet hatte, mussten die männlichen Pflanzen ausgerissen werden. Der Grund dafür war, dass unbefruchtete weibliche Pflanzen sehr viel mehr Harz produzierten, und in diesem Harz befand sich der größte Anteil an Cannabinoiden. Das sind die psychoaktiven Wirkstoffe der Pflanze, und die waren, zumindest was Mr. Peterson betraf, der einzige Sinn des Unternehmens.
    Für mich war das Unternehmen der Sinn des Unternehmens. Es war die Befriedigung, ein ausgezeichnetes Ergebnis zu erzielen.
    Nachdem ich die Fabrik ein paar Monate geleitet hatte, hatte Mr. Peterson meine sehr detaillierten, sehr technikorientierten Berichte über die Fortschritte der Pflanzen gründlich satt. Ich glaube, bei mindestens zwei Gelegenheiten habe ich ihn förmlich in den Schlaf gelangweilt: Einmal, als ich die Gleichung zu erklären versuchte, die beschreibt, wie weit die Lampen von den Pflanzen entfernt sein müssen; und ein anderes Mal, als ich meine Hypothese ausführte, warum die Pflanzen während der Wachstums- und der Fruchtbarkeitsphase unterschiedliche Lichtwellenlängen benötigen (es hat mit dem Verlauf der Sonne und der Streuung des Lichts in der Atmosphäre zu tun).
    Trotzdem bin ich der Meinung, dass all die wissenschaftliche Präzision sich letzten Endes auszahlte. Ich konnte drei üppige Ernten überwachen, deren Qualität von Mr. Peterson mit einem anerkennenden »Nicht schlecht!« quittiert wurde.
    Zusammengefasst war das mein Leben in diesen sechzehn Monaten. Es gab also durchaus Momente der Ruhe inmitten des allgemeinen Galopps. Wenn ich laut vorlas oder mich um die Pflanzen kümmerte, tauchte ich so tief in die jeweilige Tätigkeit ein, dass die Zeit und alles andere in den Hintergrund rückte. Aber trotzdem tickte die Uhr unaufhaltsam weiter. Für Mr. Peterson mochte die Zeit langsam und friedvoll dahingleiten, aber für mich raste sie in einem sich zunehmend beschleunigenden Wirbel davon. Und es dauerte nicht lange, da hatte sie uns eingeholt.
    Es muss irgendwann Anfang Oktober gewesen sein, kurz nachdem ich meine Fahrprüfung bestanden hatte, als Mr. Petersons Probleme mit dem Sprechen offensichtlich wurden, obwohl sie sich schon eine ganze Zeit lang angekündigt hatten. Es fing an mit einem leichten Lallen und Verzerren von Lauten – so ähnlich wie jemand spricht, der ein bisschen berauscht ist. Nur dass Mr. Peterson natürlich nicht berauscht war (oder jedenfalls nicht so berauscht). Er bemerkte das gelegentliche Zucken und Zittern, das sich in seine Sprache schlich. Er bekam Schwierigkeiten mit bestimmten Lauten; Wörter »verfingen« sich in seiner Kehle; und hin und wieder konnte er die Lautstärke seiner Stimme nicht kontrollieren. Anfangs war es nichts als ein leichtes Ärgernis, aber es wurde schlimmer und weitete sich aus. Schon bald beklagte er sich

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