Das unerhörte Leben des Alex Woods oder warum das Universum keinen Plan hat: Roman (German Edition)
darüber, dass er den Eindruck habe, seine Stimme gehöre nicht mehr ihm. Sie rebellierte und gehorchte ihm nicht mehr so, wie sie sollte. Seine Gedanken waren so rege wie eh und je. In der Abgeschiedenheit seines Kopfes konnte er sich immer noch vollkommen normal ausdrücken. Aber das Sprechen wurde zunehmend mühevoll.
Er passte sich an die Gegebenheiten an. Immer öfter kommunizierte er durch Schreiben statt durch Sprechen. Diese Strategie entsprang dem Zorn über seine Unzulänglichkeit; es war keine bewusste Entscheidung oder eine überlegte Handlung. Das Schreiben ging viel langsamer als das Sprechen, aber er fühlte sich dabei sicherer und konnte sich so ausdrücken, wie er es wollte. Seine Schreibfähigkeit war unvermindert, und die Worte, die er zu Papier brachte, empfand er als glaubwürdiger. Dennoch brachte auch diese Methode neue Probleme mit sich. Seine Hand funktionierte noch einwandfrei, aber sein Sehvermögen nahm ab. Seinen geschriebenen Worten mit den Augen über die Seite zu folgen, war für Mr. Peterson eine langwierige Angelegenheit – was er als inakzeptabel betrachtete. Darum schrieb er von nun an »blind«, also ohne nachzuschauen, was er schrieb. Er trug ständig einen Stift und einen Notizblock mit weißem Papier bei sich, und er fasste sich stets so kurz wie möglich.
Ist das lesbar? ,schrieb er einmal, als sein blindes Schreiben noch in den Kinderschuhen steckte.
»Ja, es ist sehr gut lesbar«, versicherte ich ihm. »Sie werden damit zwar keinen Schönschreibwettbewerb gewinnen, aber für die tägliche Kommunikation reicht es allemal.«
Es schlägt Sprechen um Längen , schrieb Mr. Peterson.
Aber die Sprachprobleme waren alles in allem nichts weiter als eine Unannehmlichkeit. Wenn wir uns Zeit nahmen, konnten wir immer noch ausführliche Gespräche führen, wenn auch auf ungewöhnliche Art und Weise. Es wäre etwas anderes gewesen, wenn er seine Fähigkeit zu kommunizieren verloren hätte. Aber wir beide wussten, dass es dazu nicht kommen würde.
Im Februar 2011 wurde deutlich, dass der entscheidende Faktor seine eingeschränkte Bewegungsfähigkeit sein würde. Zu diesem Zeitpunkt waren – selbst unter Zuhilfenahme des Rollators – einfache Tätigkeiten wie Wasser kochen oder auf die Toilette gehen eine ernste Herausforderung geworden. Und eines Abends Anfang März kam das Unausweichliche. Er würde nicht mehr lange in der Lage sein, eigenständig zu leben, und das war für ihn der Wendepunkt. Er hatte nie die Absicht gehabt, sich in ständige professionelle Pflege zu begeben.
Es wird Zeit , schrieb er.
Das war es also. Ich war überrascht, wie ruhig und gefasst ich blieb. Aber immerhin hatte ich viel Zeit gehabt, mich auf diesen Moment vorzubereiten. Mir war klar, dass ich jetzt – mehr als je zuvor – stark und entschlossen sein musste. Die Zeit für den letzten Freundschaftsdienst war gekommen. Das war der Gedanke, an dem ich mich festhalten musste.
Ich rief in der Schweiz an und vereinbarte für den nächsten Monat einen Termin. Vier Wochen ließen uns genug Zeit für alle Vorbereitungen. Mr. Peterson musste nur kurz ans Telefon kommen und bestätigen, dass es sich dabei um seinen eigenen Wunsch handelte.
Mit diesem einen Telefonat wurde alles in Gang gebracht.
Keiner von uns rechnete mit irgendwelchen Schwierigkeiten. Wir wären nicht im Traum darauf gekommen, dass wir vielleicht nicht wegkommen würden. Wieso auch? Abgesehen von ein paar unbedeutenden, noch nicht geklärten Fragen – wie etwa, was ich meiner Mutter erzählen sollte –, hatten wir alles bis ins Kleinste geplant. Die Krankenunterlagen waren auf dem neuesten Stand. Der Wagen war überholt worden und mittlerweile auf mich angemeldet. Wir hatten den Abreisetag bestimmt. Wir dachten, wir würden einfach still und heimlich verschwinden. So hätte es sein sollen. So wäre es auch gewesen, wenn es nicht zu dem Sturz gekommen wäre. Dieses Missgeschick war wie ein Dominostein, der alles andere über den Haufen warf. Ohne diesen Vorfall hätte alles reibungslos funktioniert.
20 Die Flucht
Es war Krystyn, die ihn fand, an einem Morgen im April um zehn Uhr, gerade einmal achtundvierzig Stunden, bevor wir losfahren wollten. Er schrieb später, dass er keine Ahnung hatte, was geschehen war, aber die Erklärung war vermutlich ganz einfach. Vielleicht hatte er eine Stufe verfehlt oder ein Hindernis übersehen, vielleicht hatte ihn ein Schwindel überkommen oder er hatte kurzzeitig das Gleichgewicht verloren. Er
Weitere Kostenlose Bücher