Das unerhörte Leben des Alex Woods oder warum das Universum keinen Plan hat: Roman (German Edition)
auch etwas, was ihm wichtig war.
»Wie fühlen Sie sich?«, fragte ich.
Ruhig ,schrieb er. Ruhig und entschlossen. Wie steht’s mit dir?
»Genauso«, sagte ich.
Ganz sicher?
»Ja.« Ich rang mir ein Lächeln ab. »Ich bin auch entschlossen.«
Und als ich mit ihm jene letzten Schritte zur Eingangstür des Hauses ohne Namen ging, war meine Entschlossenheit nur noch gewachsen. Ich hatte eine Aufgabe zu erledigen, und ich würde aushalten, so lange es nötig war. Falls ich irgendwelche Zweifel gehabt hatte, ob ich Mr. Peterson von den Ereignissen zu Hause erzählen sollte, so hatten sich diese endgültig in Luft aufgelöst. Der Kern der Sache war glasklar: Wenn ich es ihm gesagt hätte, dann hätte ihm dies Schmerzen zugefügt, egal, wie er sich entschieden hätte. Wir beide wären verletzt worden, und zwar viel mehr als nötig. Unnötige Schmerzen zu vermeiden war in meinen Augen keine Entscheidung, die eine komplexe moralische Rechtfertigung erforderte. Es war nichts als gesunder Menschenverstand.
Nachdem sie für sich selbst und Mr. Peterson Kaffee gekocht hatte, setzte sich Petra, eine der beiden Begleitpersonen, die uns im Haus erwartet hatten, zu uns an den Tisch. Linus, der andere Begleiter, hielt sich abseits. Ich sah ihn nur, als er uns an der Tür begrüßte. Den Rest der Zeit blieb er im Hintergrund, bereitete den Papierkram vor und kümmerte sich um sämtliche Formalitäten. Es würde auch Linus sein, der die Schweizer Behörden benachrichtigte, damit der Tod festgestellt und Mr. Petersons Leichnam zum Krematorium gebracht werden konnte. Petras Aufgabe bestand darin, jederzeit für uns da zu sein, uns bei jedem Schritt zu begleiten, alle Fragen zu beantworten und sich insgesamt während der ganzen Zeit um uns zu kümmern. Wenn die Zeit gekommen war, würde sie das Natrium-Pentobarbital vorbereiten und anreichen, aber nur auf Mr. Petersons ausdrücklichen Wunsch hin. Niemand sonst durfte diese Handreichung verlangen.
Mein erster Eindruck von Petra war, dass an ihr nicht viel dran zu sein schien. Sie war kaum einen Meter fünfzig groß, und sie war so hager wie Mr. Peterson, aber ohne diese drahtige Stärke, die ihn früher ausgezeichnet hatte. Das aschblonde Haar hatte sie in einen Pferdeschwanz gebunden, und ihre Haut hätte selbst im englischen Winter noch blass gewirkt. Ihre Stimme war leise und weich, und sie trug nur wenig Make-up – einen Hauch von Eyeliner, der sie noch blasser, kleiner und jünger erscheinen ließ, als sie vermutlich war. Aber trotz ihrer augenscheinlichen Zierlichkeit legte sie eine ruhige und feste Selbstsicherheit an den Tag, die mich entspannte. Es war merkwürdig, aber bis auf diese gelassene und besänftigende Art, die sie an sich hatte, erinnerte sie mich in vielem an meine Mutter.
Ich dachte lange über Petra nach und darüber, wie sie wohl zu diesem Job gekommen war – ob über eine Zeitungsannonce und ein Bewerbungsgespräch wie bei jeder anderen Anstellung. Schließlich war ich es leid und beschloss, sie einfach zu fragen.
Alex will immer wissen, was hinter den Dingen steckt, bemerkte Mr. Peterson entschuldigend.
»Sie sagte doch, wir dürften Fragen stellen«, verteidigte ich mich.
»Das stimmt«, bestätigte Petra. Sie betrachtete Mr. Petersons blind geschriebenen Zettel eine Weile – diese Art der Kommunikation war ihr neu –, und dann erzählte sie uns, dass sie eine Ausbildung zur Krankenschwester absolviert hatte. Seit sieben Jahren arbeitete sie in Herrn Schäfers Klinik. Sie hatte eine »Blindbewerbung« geschrieben, nachdem sie in der Zeitung über seine Arbeit gelesen hatte. »Ich fand das, was er macht, wichtig, und ich dachte, ich könnte dabei helfen«, schloss Petra ihre Erklärung.
So war Petra in allem: Sie war direkt und nahm kein Blatt vor den Mund. Mit ihrer federleichten Stimme legte sie Mitgefühl in die kürzesten, einfachsten Sätze. Ich vermute, dies war einer der Gründe, warum sie für diese Tätigkeit geeignet war.
Sie musste noch einmal den Fragenkatalog durchgehen, den Mr. Peterson bereits zwei- oder dreimal beantwortet hatte, aber diesmal waren die Fragen nackt und unmittelbar: »Wollen Sie heute sterben?«, fragte Petra. »Sind Sie bei klarem Verstand? Ist dies Ihre eigene Entscheidung?« Danach folgte die wiederholte Beteuerung, dass es keinen Zwang gebe weiterzumachen. Die Entscheidung könne jederzeit widerrufen werden, bis zu dem Punkt, an dem das Gift eingenommen worden sei. Petra nannte es weder Medizin noch Medikament.
Weitere Kostenlose Bücher