Das unerhörte Leben des Alex Woods oder warum das Universum keinen Plan hat: Roman (German Edition)
Ärzte Euphorie nennen. Schädellappenepileptiker können so etwas während eines Anfalls erleben, wenn die emotionalen Zentren des Gehirns plötzlich überlastet sind und anfangen, Amok zu laufen. Normale Menschen bekommen es manchmal auch, wenn sie das Gefühl haben, sie haben etwas Außergewöhnliches erreicht, oder wenn sie auf Drogen sind. Wie auch immer, ich bin mir sicher, dass es Euphorie war, was ich in diesem Augenblick erlebte, und ein paar Sekunden lang dachte ich, ein Anfall stünde bevor. Ich befand mich in dem gleichen traumartigen Zustand, fühlte die gleiche Abgehobenheit, fast eine Schwerelosigkeit. Aber gleichzeitig war von meiner Aura nichts zu spüren. Es gab keine Aufmerksamkeitsstörung, keine Halluzinationen. Ich fühlte mich eher, als stiege ich aus einem dichten Nebel in einen strahlend blauen Himmel und goldenes Sonnenlicht auf. Ich konnte alles deutlich sehen, und mein Kopf war klar. Ich fühlte eine Ruhe, die weit über meine normale Gelassenheit hinausging.
»Was?«, fragte Mr. Treadstone. Nicht »Wie bitte?« oder »Entschuldigung?« oder irgendeine andere der höflichen Alternativen, die er uns täglich einbläute. Und an seiner Gesichtsfarbe war glasklar zu erkennen, dass er mich gleich beim ersten Mal verstanden hatte. Aber aus irgendeinem Grund gab er mir die Gelegenheit, die Sache noch einmal zu überdenken.
Ich wollte die Sache aber nicht überdenken.
Meine Worte waren die einzigen wahrhaftigen Worte, die während dieser Veranstaltung in Mr. Treadstones Büro geäußert worden waren. Ich hätte sie nicht für alles Geld auf Robert Asquiths Bankkonto zurückgenommen. Drake Mackenzie war genau das, als was ich ihn bezeichnet hatte, und ich fand es durchaus in Ordnung, das einmal klargestellt zu haben. Es war ja nicht so, dass mir deswegen etwas Schlimmes passieren würde – jedenfalls nichts Schlimmeres, als mir ohnehin passiert wäre. Mr. Treadstone konnte mich von der Schule verweisen – aber das wäre wirklich keine so schreckliche Konsequenz. Dann würde ich wieder zu Hause unterrichtet werden und wenigstens etwas lernen. Drake Mackenzie konnte mich wieder verprügeln, aber dadurch würden meine Worte wohl kaum weniger wahr. In diesem Moment merkte ich, dass ich keine Angst mehr vor Drake Mackenzie hatte. Wie er dasaß mit seinem grünen Gesicht und seinem geschwollenen Auge und seinen feigen Lügen, da merkte ich, was für eine unbedeutende Person er doch war. Und so wiederholte ich meine Aussage, als ich die Chance dazu bekam, der ich im Übrigen nichts hinzuzufügen hatte – bis auf das Schulmotto Ex Veritas Vires , das mir in diesem Zusammenhang äußerst passend erschien.
Drake Mackenzie fiel die Kinnlade fast bis zum Boden. Mr. Treadstone sprang wie ein Feuerwerkskörper aus seinem Stuhl.
»Mackenzie: Raus! SOFORT ! Woods: Kein Wort mehr! Keinen weiteren ATEMZUG !«
Der Vortrag, der daraufhin folgte, war sehr lebhaft, aber viel zu lang und voller Wiederholungen, sodass ich ihn hier nicht wiedergeben möchte. Nachdem er vorbei war, rief Mr. Treadstone meine Mutter auf der Arbeit an, und meine Mutter bat um Nachsicht wegen mildernder Umstände. Sie spielte auf meine Krankheit und meine bislang weiße Weste an. Sie einigten sich schließlich darauf, dass eine Woche Beurlaubung von der Schule – in Verbindung mit weiteren Disziplinarmaßnahmen zu Hause – das Mindeste sei, was ich an Strafe für jenes schreckliche Wort erdulden müsste. Drake Mackenzie dagegen wurde nur einen einzigen Tag lang beurlaubt. Mein Vergehen – jenes Wort zu benutzen – wurde für fünfmal schlimmer erachtet als alles, was er mir angetan hatte.
Am Abend war das Gefühl der Euphorie nur noch eine Erinnerung. Ich war erschöpft und fühlte mich elend, und wieder einmal fehlten mir die Worte.
Ich hatte nicht genug Zeit gehabt, um mir zu überlegen, was ich Mr. Peterson erzählen wollte. Mir blieb nur ein Zeitfenster von zwei Stunden, ehe meine Mutter nach Hause kam – und dann würde ich gewiss einen Monat lang Hausarrest bekommen (zwei Monate, wie sich herausstellte). Und je mehr ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass es gar nichts gab, was ich hätte sagen können. Ich konnte die Fakten auf den Tisch legen, konnte meine Entschuldigung vorbringen, eine detaillierte Schilderung der Qualen geben, die ich seither erlitten hatte – und nichts davon würde irgendetwas an der verdammten Situation ändern. Das Endergebnis war katastrophal, so oder so.
Als ich an den
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